[ m a d e b y e y e s ]
I‘ll be home for Christmas - aller Voraussicht nach. Schon wieder Weihnachtszeit, und ich stehe nicht als graues Foto mit einer Kerze davor auf dem Tisch, sondern lebendig und leibhaftig vor dem Tannenbaum und darf die Weihnachtszeit miterleben. Schon wieder ein Weihnachten mit Papa, ein Fest mit dem Ehemann, dem Sohn, dem Bruder, dem blitzarschigen Diskutierbär, dem Nachzweibierdiscofoxtänzer – ein Weihnachtsfest mit mir. Ich lebe noch.
Ich lebe sogar gut und gerne, auch wenn es durch den stetig fortschreitenden Verlust meiner Muskeln zunehmend beschwerlicher wird – zumindest das Tanzen vor Freude. Die Verluste werden gefühlt weniger beziehungsweise der Verlust meiner Fähigkeiten verlangsamte sich im letzten Jahr. Ehrlicherweise muss man auch dazusagen, dass es da ja nicht mehr viel zu verlieren gibt. Dennoch gibt es ein paar renitente gallische Dörfer in meinem Muskelhausen, die sich offenbar erfolgreich, wenn auch mit leichten Abstrichen, dem Diktat meiner ALS-Erkrankung widersetzen. Es sind nicht mehr viele Bewegungen, die ich bewusst machen kann, zum Teil sind sie kaum sichtbar. Umso heiliger sind die letzten muskulären Fähigkeiten, und sei es „nur“ das bewusste Zucken mit meinem kleinen Finger.
Ich freue mich darüber, denn nach über sechs Jahren Diagnose ALS könnte ich eigentlich schon mein Meet & Greet mit dem Fährmann hinter mir haben. Aber so ist es glücklicherweise nicht und ich kann mich ein weiteres Weihnachtsfest von meinen Pflegekräften vor den Tannenbaum drapieren lassen oder mich als Bärenfellersatz mit gespreizten Armen und Beinen vor den Kamin legen lassen. Mit mir könnte man es ja machen, ich laufe vor nichts und niemandem mehr weg – wie auch.
Vor manchen Situationen im vergangenen Jahr wäre ich gerne weggelaufen. Es gibt aber Dinge, die Entscheidungen erfordern, vor denen man nicht weglaufen kann und die man auch nicht aussitzen kann, in der Hoffnung, dass sich ohne eigenes Zutun die Umstände ändern. Die ALS stellte meine Familie und mich im vergangenen Jahr vor einige dieser Entscheidungen und Herausforderungen.
Nach unserem schneereichen und sehr schönen Familienurlaub im Januar in Österreich, stand postwendend ein stationärer Besuch des Universitätsklinikums des Saarlandes in Homburg an. Ziel war, eine Operation zur Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG), ein Schlauch im Magen zur künstlichen Ernährung, zu überstehen – und auch zu überleben. Ich will es nicht dramatisieren, aber es kann immer etwas aus dem Ruder laufen. Ich hatte ja bereits beachtlich Schlagseite, dann braucht es nicht viel und wir kentern.
Dieser Eingriff stand schon seit längerem an, musste aber des Öfteren verschoben werden, da die Coronapandemie und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, es nicht ermöglichten. Ich hatte mich bis zur Operation bereits ein Jahr fast ausschließlich durch das Trinken hochkalorischer Trinknahrung ernährt, weil die Aufnahme fester Nahrung nicht mehr möglich war. Fast ausschließlich das immer gleiche hochkalorische, nach Schokolade schmeckende Getränk, das in ausreichender Menge konsumiert, alle lebensnotwendigen Bestandteile enthält und mich vollumfänglich ernähren kann. Es gab und gibt natürlich auch andere Geschmacksrichtungen, zum Beispiel Waldfrucht und Vanille oder auch herzhafte Varianten, wie zum Beispiel mit Pilzgeschmack, aber diese widerstanden mir nach kurzer Zeit und somit blieb nur noch Schokolade übrig. Das Produkt schmeckte nach meinem Gusto am normalsten und besten. Auch Versuche mit anderen Herstellern waren nicht erfolgreich. Somit hatte ich ein neues Leibgericht. Tausche Wiener Rahmschnitzel vom Kalb mit Kroketten und Salat gegen einen Kakao.
400 Kalorien auf 200 Milliliter. Mindestens vier musste ich trinken, damit ich ausreichend ernährt bin mit ausschließlich diesem Produkt. Nach Adam Riese und Eva Zwerg musste ich also Summa summarum 800 Milliliter davon zu mir nehmen. Fast wie früher: Vier Bier sind ein Schnitzel – und dann hat man noch nichts getrunken. Ersetzt man Bier durch Schokodrink, dann stimmt es fast, denn pro Drink sind gerade mal in etwa 130 Milliliter Wasser enthalten. Somit fehlte nochmal mindestens ein Liter an Getränken zusätzlich, sollte ich es denn überhaupt am Tag auf vier Drinks bringen.
Das gestaltete sich zunehmend schwieriger. Durch die mangelnde Kraft konnte ich nur noch aus speziellen flachen und sehr kurzen Trinkhalmen, unter kaum vorstellbar hohem Kraftaufwand trinken. Immer den Kopf so weit nach vorn geneigt, dass nichts versehentlich in den Rachen laufen kann, aber dennoch möglichst flach, damit ich es überhaupt schaffe etwas anzusaugen und den Halm mit meinen Lippen luftdicht zu umschließen. Dann nicht verschlucken und nicht die Zunge zwischen die Zähne rutschen lassen, nicht stressen lassen, Ablenkung vermeiden, Fernseher und Radio aus. „Ruhe bitte, Papa trinkt!“
Da die Konsistenz schnell zu dickflüssig für mich und meine Saugkraft wurde, erwärmte ich das Getränk und streckte es mit Wasser oder Kaffee. Eine Portion hatte nun 400 Millimeter und ich schaffte es meistens nur dreimal am Tag, die Zeit und die Kraft für diesen gefühlten Trinkmarathon aufzubringen. Mein Gewicht schmolz von vor der Erkrankung von circa 95 Kilogramm auf nun unter die Hälfte. 45 Kilogramm bei 1,81 Meter Körperlänge wog ich Anfang dieses Jahres. Nicht genug zum Leben, und nicht genug zum Sterben – aber auch nicht weit entfernt von dieser Grenze.
Da braucht es nicht viel, das schief gehen muss, um in einem Desaster zu enden. Daher hatte ich auch große Angst vor diesem Eingriff. Meine Wahlmöglichkeiten waren überschaubar. Entweder Eingriff mit Risiko machen lassen oder verhungern und die Reise auf dieser Welt beenden. Die Entscheidung bedurfte keiner langen Überlegung, was aber meine Angst vor der Operation und dem Aufenthalt im Krankenhaus nicht schmälerte. Ich bin eh kein mutiger Spitäler und mag es überhaupt nicht, die Kontrolle abgeben zu müssen. Dies ist im Krankenhaus aber der Fall. Insbesondere meine eingeschränkte körperliche Handlungsfähigkeit und die fehlende Möglichkeit ohne augengesteuerten Sprachcomputer für Ungeübte verständlich zu kommunizieren, liefern mich vielen Situationen vollständig hilflos aus und ich muss dann oft angstvoll hoffen, dass die Person keinen Fehler macht, der schnell fatale Konsequenzen haben kann.
Es reicht schon, meinen Kopf im Liegen gerade zu drehen und mein Speichel, der gefühlt das Ausmaß der Niagarafälle hat, läuft in Rachen und Lunge. Ein effektives Abhusten geht nicht mehr und wir haben ein kapitales Problem, weit aufgerissene Augen, das (Re)Animationsprogramm startet und der Fährmann säuselt mir schonmal den nicht verhandelbaren Beförderungsvertrag ins Ohr. Ich wiederhole mich in dieser Sache, aber so einfach ist das: Ohne großen Zapfenstreich, ohne „Der Papa muss jetzt gehen“, ohne „Ich liebe Dich“, ohne „Der Wasserdruck der Heizung muss nach dem Entlüften kontrolliert werden“. Einfach weg… Und schon lässt die Heizleistung nach und keiner weiß warum – und das bei den heutigen Energiekosten. Ein Trauerspiel.
Durch die sehr gute, umsichtige und vertrauensvolle Abstimmung im Vorfeld mit meinem mich schon seit sechs Jahren behandelnden Neurologen an der Uniklinik, konnten die optimalen Voraussetzungen für meinen Aufenthalt unter den herausfordernden Bedingungen geschaffen werden. Mein Pflegepersonal durfte mich im Krankenhaus konstant begleiten, selbst im Operationssaal. Denn nur sie waren und sind geübt im Umgang mit mir, wissen was möglich und gefährlich ist, und verstehen mich durch Blicke und kleine Zeichen. Eine riesige Erleichterung für mich.
Auf Station wurde alles getan, um mir nach Möglichkeit den Aufenthalt so wenig beschwerlich wie möglich zu gestalten. Das fing bei einem Bett mit Wechseldruckmatratze an, über ein Zimmer mit genügend Platz für meine zahlreichen Gerätschaften und mein Personal, bis hin zur Besorgung meiner Nahrung und der Abstimmung mit meinem zukünftigen Provider für künstliche Ernährung. Immer freundlich, nie überheblich, immer geduldig, einfühlsam und empathisch, professionell und äußerst kompetent, gut abgestimmt und organisiert und verbindlich sind Attribute, die der Station der Neurologie während meines Aufenthalts auf Basis meiner Erlebnisse uneingeschränkt zugeschrieben werden können. Ein Leuchtturm im gelegentlich doch düsteren, eitlen und bisweilen undurchsichtigen Klinikalltag, und ein Vorbild, an dem sich manche Akteure ein Beispiel nehmen sollten.
Nach einer Woche Krankenhaus war die Prozedur zum Glück erfolgreich überstanden und ich habe nun ein Loch im Bauch mit einem dünnen Schlauch darin, der mit einer runden Halteplatte im Magen gehalten wird. Nun muss ich mein Essen und meine Getränke nicht mehr schlucken, denn sie gelangen direkt ohne Umwege in meinen Magen. Im Prinzip ändert sich somit nichts, außer dass mein Essen in einer Form sein muss, die durch den Schlauch passt. Werthers Echte, Zuckerwatte und Toblerone entfallen somit, ebenso so wie viele andere Speisen auch, zumindest in der Form und Konsistenz, in der man sie üblicherweise kennt. Bier, sogar alkoholhaltiges, entfällt nicht.
Das ist künstliche Ernährung mit nicht künstlicher Nahrung. Häufig wird die Frage in den Raum geworfen, ob ein Leben mit künstlicher Ernährung noch lebenswert ist, und direkt ergänzt mit der allgemeinen Feststellung, dass dem nicht so ist. So ist das auch beim Thema der künstlichen Beatmung. Der Raum wird meistens umgehend durch den Werfer wieder verlassen und die Aussage verunsichert die Anwesenden, wenn man sie nicht differenziert kommentiert. Es ist eine individuelle Entscheidung und das muss jeder für sich entscheiden. Zu meinen, man könne das für andere entscheiden, spricht vielen Menschen und mir persönlich das Recht auf Leben ab. Interessanterweise gibt es bei einem Herzschrittmacher diese Diskussion nicht.
Die Frage, was mir lebenswert erscheint, habe ich für mich beantwortet. Natürlich kann man nur auf Basis der eigenen Erfahrung, der Erfahrung anderer und dem Antizipieren des eigenen Befindens aus diesem Wissen eine Entscheidung für sich ableiten. So lange ich aber noch in der Lage bin zu kommunizieren, in welcher Form auch immer, kann ich auch jederzeit lebensverlängernde Maßnahmen beenden lassen. Verhungern geht somit auch mit PEG. Für Situationen, in denen ich nicht mehr den eigenen Willen äußern kann, habe ich eine Patientenverfügung. Das nimmt anderen das Recht aber auch die Last für mich entscheiden zu können beziehungsweise zu müssen. Es gibt auch eventuell in Zukunft Situationen, von denen noch keiner berichten konnte und ich rein auf Basis meiner Vorstellungskraft heute schon verfügt habe, wie in solchen Situationen zu verfahren ist. Eine hinreichend komplizierte Angelegenheit, denn es könnte mir in diesem Zustand vielleicht unerwartet schlecht gehen oder aber auch unerwartet gut.
Nehmen wir an, ich verfüge, an der Gabelung X auf meinem Lebensweg die Abzweigung in Richtung Jordan zu nehmen, dann werden alle lebensverlängernden und -erhaltenden Maßnahmen beendet, ich wahrscheinlich vorher in einen entspannten und angstfreien Zustand gespritzt, der aber wahrscheinlich auch die Wahrnehmung meiner Umgebung unmöglich macht. Mein irdisches Dasein wird beendet. Was, wenn ich aber meine Meinung ändere und innerlich dagegen anschreie? Umgekehrt kann das natürlich auch der Fall sein. Es braucht in jedem Falle Mut, vorher zu entscheiden. Diese Bürde der Entscheidung über mein Leben und meinen Tod meinen Lieben aufzulasten, das will ich in keinem Fall.
Mittlerweile wiege ich wieder 68 Kilogramm und friere nicht ständig. Durch die Verbrennung der zusätzlichen Kalorien heize ich innerlich. Wir können nun zu Hause die Raumtemperatur absenken und unser Besuch wünscht sich nicht mehr, im Bikini oder in Badeshorts gekommen zu sein. Wenn Sie es also nicht für sich machen wollen, dann vielleicht fürs Klima und ihre Nebenkostenabrechnung. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich es jederzeit nochmal machen würde, aber wahrscheinlich zwei Jahre früher. Leider bin ich mal wieder erst hinterher schlauer und merke, dass ich mir dadurch viel erspart hätte, wenn ich wesentlich früher die Sache erledigt hätte. Vom Prinzip ist das nämlich ein Routineeingriff und schnell erledigt, wenn man nicht nur noch aus Haut und Knochen besteht, nicht das Lungenvolumen eines Quietscheentchens hat und durch die Nase intubiert werden muss, nicht in einem völlig desolaten Zustand ist und als Intensivpflegepatient auf der letzten Rille des eigenen Daseins in Krankenhaus geschoben werden muss.
Rückblickend also (fast) alles richtig gemacht. Es war ein gutes Jahr mit vielen schönen Momenten und Erlebnissen. Sechs Jahre Diagnose ALS und kein bisschen lebensmüde. Diesen Sommer bin ich sehr oft unterwegs gewesen und fast immer mit Familie. So auch auf einem Festival, dem Rocco del Schlacko. Drei Tage Festival und immer von 16 Uhr bis Feierabend. Sehr gute Musik gehört und viele Freunde getroffen. Einziger Wermutstropfen: Das Essen. Der Anblick der Chilly Cheese Fries und der Rost(brat)wurst im Doppelweck mit viel Senf, während man selbst nur noch hochkalorische Flüssignahrung in den Magen gepumpt bekommen kann, grenzt an Folter. Dafür hatte ich einen schattigen und bequemen Sitzplatz mit bester Aussicht, und die Entbehrung war nach zwei Bier vergessen. Top organisierter Rollstuhlbereich. Ich durfte die spitzenmäßige Unterstützung von allen Beteiligten auf dem Festival und von meinen Pflegekräfte genießen. Hat großen Spaß gemacht und gerne wieder.
Und so blicke ich sehr versöhnlich auf 2022 zurück, auch auf die schattigen Passagen des Weges. Allerdings muss ich mir auch Wasser in den Glühwein gießen. Wir haben noch immer eine offene Stelle im Team nicht besetzen können. Corona hat nicht nur die Findung eines Termins für die Operation erschwert, sondern auch unsere Personalsituation zu unserem Nachteil beeinflusst. Mit den Nachwirkungen kämpfen wir bis heute. Wir konnten eine von der Mitarbeiterin selbst gewünscht befristete Stelle im letzten Jahr glücklicherweise wieder unbefristet besetzen, jedoch musste das Arbeitsverhältnis im März aufgrund der Gesetzeslage beendet werden. Die faktische Impfpflicht für Pflegekräfte gilt auch per Gesetz explizit für Angestellte im Rahmen des persönlichen Budgets und daraufhin kündigte die Mitarbeiterin schweren Herzens und hat dem Pflegeberuf Servus gesagt. Wir von unserer Seite waren bereit, es darauf ankommen zu lassen, wie das Gesundheitsamt reagiert, aber die Mitarbeiterin wollte Planungssicherheit, was auch völlig legitim und verständlich ist. Ich will die geltende Gesetzeslage weder gutheißen noch kritisieren, mir fehlen auch Daten, um den Nutzen objektiv beurteilen zu können. Fakt ist aber, es betraf uns und wir müssen mit den Konsequenzen leben, bis heute. Denn vom Prinzip zieht es sich seitdem mit all seinen Nachwirkungen bis heute wie ein roter Faden durch unseren Stellenplan. Die Neubesetzung gestaltet sich trotz sehr guter Konditionen, top Zuschlägen und guten Arbeitsbedingungen mehr als schwierig.
Nicht nur der Arbeitsmarkt an Pflegekräften ist leer, sondern auch mein Postfach für Bewerbungen. Der Personalmangel in der Pflege schlägt auch bei uns voll ein. Das trübt bisweilen nicht nur mein sonniges Gemüt, sondern auch das des gesamten Teams. Ich hoffe sehr, dass sich diese Situation im nächsten Jahr wieder bessert. Wenn Sie sich berufen fühlen und bei uns ihrer Berufung nachkommen möchten, würde ich mich sehr über eine Nachricht von Ihnen freuen – alle Infos finden Sie auf meiner Internetseite. Die Besetzung der freien unbefristeten Vollzeitstelle für examinierte Pflegekräfte im nächsten Jahr kommt auf meinen Wunschzettel für das Christkind. Direkt hinter Weltfrieden und einem Zaubertrank gegen ALS, und noch vor der Handkreissäge und einem neuen Squashschläger. Frohe Weihnachten und ein friedliches und gesundes Jahr 2023 wünsche ich Ihnen und Ihren Lieben.