[ m a d e b y e y e s ]
Wir waren in Urlaub. 2021, Urlaub am Meer, Zeeland – wer hätte das vor fünf Jahren gedacht, als die Diagnose inklusive Prognose an meine Füße betoniert wurde. Anscheinend hat der Teufel bei meiner Mischung viel Luft im Beton, denn noch schwimme ich. Ein Großteil der an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) Erkrankten verstirbt im Durchschnitt innerhalb von drei bis fünf Jahren nach Diagnosestellung. Nur 20 Prozent der Betroffenen überleben die ersten fünf Jahre, die Hälfte davon schafft es wiederum die Zehn zu knacken. Ich habe meine Bewerbungsunterlagen für das lebende Zehntel schon gen Himmel gesandt. Ich hoffe sehr, dass der Forschung ein entscheidender Schritt bezüglich der Therapierbarkeit gelingt, damit die Überlebenszeit des gesamten Himmelfahrtskommandos wesentlich steigt. Zur Wahrheit gehört aber auch die Tatsache, dass das wohl ohne lebenserhaltende Maßnahmen wie künstliche Beatmung und Ernährung nicht funktionieren wird. Ich bin mir sicher, dass ich ohne die Maskenbeatmung, welche ich seit drei Jahren benötige, heute bereits in den ewigen Jagdgründen am Schwenken und Grillen wäre. Alles sehr theoretisch. Fakt ist: Ich lebe. Das freut mich und diese einmalige Chance sollte ich nutzen. Das tun wir – gefühlt mal mehr, mal weniger gut und schön, in jedem Falle aber im wahrsten Sinne des Wortes intensiv.
Aufgrund von Corona starteten wir jetzt erst wieder in Urlaub. Den letzten Familienurlaub davor machten wir im Januar 2020. Damals waren wir frisch im Persönlichen Budget angekommen und nutzten direkt die Möglichkeit ganz unkompliziert zu verreisen. Es gab keinen Pflegedienst mehr, mit dem wir uns vorher monatelang abstimmen mussten und der eher problem- anstatt lösungsorientiert ist. Wir fragten einfach unsere eigenen Mitarbeiter, ob sie Bock haben, uns eine Woche in den Skiurlaub zu begleiten. Kost und Logis frei, plus traumhafte Winterlandschaft und das bei voller Bezahlung. Es kann einen als Arbeitnehmer härter treffen. Der Wehmutstropfen Wasser im Glühwein: Ich. Ich mache tatsächlich ziemlich viel Arbeit und in ungewohnter Umgebung, unter suboptimalen Bedingungen für meine Pflege, kann dies für alle Beteiligten anstrengend werden. Körperlich sowie emotional. Improvisationstalent, Lösungsorientierung und die klaglose Akzeptanz von Widrigkeiten und Unperfektem ist von allen gefragt. Den Fokus auf die schönen Dinge zu lenken und nicht jeden emotionalen bockigen Gaul zu reiten, den der Teufel in den Raum stellt, ist für alle Beteiligten ratsam. Dass das nicht immer gelingt, auch mir Schlaumeier nicht, ist menschlich und selbstverständlich. Gerade morgens ist mit mir schlecht pürierte Kirschen schlürfen. O-Ton meiner Pflegekraft: „Ich springe lieber in ein Piranhabecken, als dich in der Früh wecken zu müssen!“. Leider hat sie nicht ganz unrecht mit dieser Situationsbeschreibung, denn ich kann echt bissig sein, insbesondere mit wenig Schlaf.
Ein wesentlicher Stressfaktor im Urlaub ist der Sprachcomputer. Da wir täglich draußen unterwegs sind, bin ich kommunikativ eingeschränkt, da die Augensteuerung des Sprachcomputers bei Tageslicht im Freien überhaupt nicht oder nur sehr eingeschränkt funktioniert. Selbst neueste Technik kommt hier an ihre Grenzen und mit ihr meine Pflegekräfte und ich. Ein Entzug von Kommunikationstechnik führt schnell zu sehr viel innerlichem Stress bei mir. Und das ist ja nur die Spitze des Eisberges. Zum Tagesgeschäft gehören Krämpfe, Spastiken, Speichelfluss, pathologisches Lachen und Schmerzen. Es reicht schon eine Falte am Rücken, um nach kurzer Zeit wahnsinnig zu werden und meine ALS in Den Haag anzuzeigen. Überwiegend kommunizieren wir draußen mit den Augen. Ich beantworte Fragen mit Ja und Nein. Eine geschickte Fragetechnik und ein Gespür für meine Bedürfnisse, sowie ein waches Auge auf mich erleichtern den manchmal beschwerlichen Aufstieg zum Lösungsgipfelkreuz. Das gelingt nicht immer gut beziehungsweise hinreichend schnell und ich koche innerlich trotz des Wissens um die Schwierigkeit, für Nichthellseher manche Herausforderung zu lösen. Gerade in ungewohntem Terrain kommt es zu untypischen Bedürfnissen, die man selbst zwar für völlig schlüssig, logisch und offensichtlich hält, die aber auch langjährige Bärenpflegerinnen und -pfleger zum Verzweifeln bringen können. Ich wäge bereits den Schwierigkeitsgrad und die Erfolgsaussichten meiner Anfrage ab, in angemessener Zeit und mit vertretbarem emotionalem Aufwand mein Anliegen umzusetzen, bevor ich überhaupt frage. Denn nur mit Verstehen ist es ja noch nicht getan, auch die Ausführung braucht ja seine Zeit. Stechmücken in meinem Nacken haben somit gute Chancen auf ein All-you-can-saug bei mir.
Kommt es zu einer Kombination solcher Ereignisse und Unpässlichkeiten, kann diese explosiv sein und abhängig von der Tagesform ist meine Zündschnur kurz. An diesem Punkt runterzukommen, sich einfach glücklich schätzen dabei sein zu dürfen und nicht bei der ersten Gelegenheit seinen Frust an einem Unschuldigen abzulassen und diese geballte Ladung detonieren zu lassen, ist bis heute mühsam. Es gelingt mir meistens. Es braucht aber auch Fingerspitzengefühl von den Anwesenden, denn selbst Freude und Genießen sind mit ALS manchmal harte Arbeit. Trotz Sonnenschein und besten Bedingungen ist eben nicht immer bei mir und uns alles eitel Sonnenschein.
Nun nachdem ich geimpft bin und das Risiko vertretbar erschien, zog es uns kurzfristig im September nach Zeeland ans Meer. Wir verbringen seit mehreren Jahren immer einen Urlaub in dieser Region der Niederlande, auch bereits vor meiner Erkrankung. Allerdings ist es nicht mehr so einfach, eben mal in Urlaub zu fahren, so wie das ohne körperliche Behinderung noch ging. Zwei Punkte erschweren spontane Reisen. Wir müssen mindestens zwei bis drei Pflegekräfte mit in Urlaub nehmen und eine passende Unterkunft für sechs Personen und einen Hund finden.
Da unsere Pflegekräfte, unverschämter Weise, auch ein Privatleben mit Kindern, Familie, Freunden, Vereinen, Freizeitaktivitäten und Verpflichtungen haben, kann man nicht eben mal darüber verfügen, wer jetzt wann und wo, spontan und gut gelaunt anzutreten hat. Wesentlich komplizierter ist das Suchen und Finden einer geeigneten Unterkunft im passenden Zeitraum. Häufig werde ich von anderen Betroffenen mit körperlichen Einschränkungen gefragt, welche Unterkunft wir empfehlen können. Leider kann und will ich diese Frage nicht beantworten, da ich dies nicht seriös tun kann. Individuelle Anforderungen an die Unterkunft, Abstriche beim Komfort, Anzahl an Personen, Kosten und nicht zuletzt der persönliche Geschmack unterscheiden sich für gewöhnlich so sehr, dass ich keine Empfehlungen ausspreche. Was für uns jetzt noch passend war, kann in zwei Monaten schon nicht mehr ausreichend sein.
Wir buchen für gewöhnlich Ferienhäuser oder -wohnungen. Teilweise sogar mehrere gleichzeitig, damit wir genug Schlafzimmer haben und die Pflegekräfte sich nach Möglichkeit in ihrer Freizeit zurückziehen können. Da ich häufig gefragt werde, wer das zahlt: Ich von meinem Einkommen, niemand sonst, und das ist für mich auch in Ordnung. Nun ist das mit Pflegegrad 5 nicht so einfach eine passende Behausung zu finden. Ich nutze täglich sperrige Hilfsmittel wie Pflegebett, Dusch- und Toilettenrollstuhl, Patientenlift, Monsterrollstuhl sowie andere Sachen, auf die ich im Urlaub nicht gänzlich verzichten kann. Dennoch sind Abstriche beim Komfort im Urlaub unvermeidbar.
Gängige Ferienwohnungsportale im Internet haben zwar häufig die Möglichkeit das Angebot zu filtern, indem man einen Haken bei behindertengerecht setzt, doch das Ergebnis ist häufig ernüchternd. Es gibt zwar einige Angebote, die rollstuhlgerecht sind, aber da ist ein normaler kleiner Rollstuhl mit gemeint. Unsere Anforderungen sind wesentlich komplexer. Und dann gibt’s tatsächlich auch Häuser mit behindertengerechtem Bad und großzügigem Platzangebot, aber leider überwiegend mit dem Charme einer Schlachthofhalle. Und so suchen wir ganz normale Häuser und klären dann mit dem Vermieter die Details wie zum Beispiel Stufen, Türbreiten, Schlafzimmer, Toilettenmaße und so weiter ab.
Wenn wir verreisen, haben wir mittlerweile den halben Hausstand dabei. Zwei große Autos und eine 500 Liter Topbox sind prall gefüllt. Zwei Beatmungsmaschinen, Absauggerät, Hustenassistent, Toiletten- und Duschstuhl, Roboterarm, Augensteuerung für Rollstuhl, elektrischer Lattenrost, Matratzentopper, diverse Pflegeutensilien und viele weitere Hilfsmittel, Trinknahrung, Werkzeug, mehrere Kabeltrommeln, Hundebox, Gepäck von fünf bis sechs Personen, Kühlbox für Medikamente und hast du nicht gesehen. Nicht zu vergessen: Bis zu sechs Personen und ein Hund müssen auch noch in die Autos. Früher gings mit dem 3er BMW mit Stufenheck, kleinem Kofferraum und Skiausrüstung mit vier Personen problemlos in Skiurlaub – was waren das unbeschwerte Zeiten.
Heute braucht es selbst für Kurzurlaube Unmengen an Material zum Überleben und um annähernd mein Wohlbefinden aufrecht erhalten zu können. Es gibt auch die Möglichkeit, sich Hilfsmittel vor Ort von einem Sanitätshaus zu leihen, manchmal sogar im Ausland. Allerdings ist dann ungeklärt, ob die geliehenen Sachen für mich bequem, passend und letztendlich benutzbar sind. Ich habe ja zum Beispiel einen zusätzlichen Softrücken am Dusch- und Toilettenstuhl, zusätzliche Polster, Seitenhalt, Antidekubituskissen mit Luftpolster auf Duschstuhl und dergleichen mehr. Das wären dann offene Variablen in einem kritischen Bereich, die mir direkt den Urlaub zerlegen könnten. Durch eigenes Material ist wenigstens eine stabile Basis im Gepäck, die wir kennen und auf die ich mich verlassen kann.
Das Ferienhaus in diesem Jahr kannten wir bereits, wir hatten es 2019 schon gemietet. Es ist gemütlich, ruhig gelegen, mit großem eingezäuntem Garten und ausreichend Platz für alle. Das Haus ist aber bei weitem nicht behindertengerecht. Die Türen haben erhöhte Schwellen, das Bad hat eine normale Größe und ist daher für mich mit Rollstuhl gerade so nutzbar. Der unbeheizte Raum mit Toilette im Erdgeschoss ist winzig und kaum breiter als der Toilettenrollstuhl. Das bedeutete für mich bei jedem Toilettengang ausziehen im kalten Hausflur mit bodentiefen Fenstern, umsetzen auf den Toilettenrollstuhl und eine lustige Erlebnisfahrt mit frei baumelndem Gemächt, sabbernd über die erhöhte Türschwelle, rückwärts in die heimelige Toilette und nach dem Sitzungstermin geht die wilde Fahrt vorwärts zurück. Da verblasst jede Kirmesattraktion. Su-su-suuuuuper. Ich liebe es. Zum Glück bin ich was mein Schamgefühl betrifft mittlerweile ziemlich schmerzfrei. Ich habe größere Probleme, die mich sorgen, als das gut abgehangene Stückchen Fleisch bei der „Cabrio-Fahrt“.
Unser Urlaub war sehr schön und wir hatten bestes Wetter. Ohne Frage, so ein Urlaub ist für mich auch sehr anstrengend. Gemeinsame Aktivitäten vor Mittag sind stressig für mich. Daher starteten wir als Familie vorzugsweise nachmittags was. Das war dann für mich zeitlich entspannt. Ich habe mittlerweile meinen eigenen Rhythmus. Auch Autofahrten über mehrere Stunden sind sehr anstrengend für mich und ich bin am nächsten Tag ein Pflegefall. Für mich überwiegt jedoch das Erleben und das Glücksgefühl gemeinsam als Familie unterwegs zu sein. Zudem würde ich es als egoistisch empfinden, mein Wohlergehen mit der obersten Priorität zu versehen und über das der anderen zu stellen. Meine Frau und unseren Sohn hat damals auch niemand gefragt, ob sie gern diese Bürde mit all den weitreichenden Konsequenzen bis in den letzten Winkel unseres Privatlebens schultern möchten.
Nur weil ich schwerbehindert bin, schmälert das kein My ihr Anrecht auf ein glückliches und erfülltes Leben. Ich bin Ehemann und Papa. Diesbezüglich ist es vollkommen irrelevant, wie mein Gesundheitszustand ist. Ich bin es. Damit geht für mich auch eine Verpflichtung einher. Eine Behinderung macht mich weder zu einem Menschen mit mehr Rechten noch zu einem mit weniger Pflichten, aber auch nicht zu einem mit weniger Rechten und mehr Pflichten. Ich bin wie Du nur anders. Wir alle sind wie Du, nur anders. Auch Mitleid für unser Leben braucht es nicht. Da wir nicht leiden, gibt es auch nichts zu bemitleiden. Natürlich wird mein Tod Leid verursachen. Wenn dieser Tag kommt, ist noch ausreichend Zeit für Mitleid. Ich bin weder tot noch fühle ich mich so. Ich bin fidel.
Anteilnahme, Hilfe und Rücksicht sind wiederum angenehm und dafür sind wir von Herzen dankbar. Ich mag mein Leben. Glück und das Empfinden glücklich zu sein ist nur eine Definition in unserem Kopf gepaart mit ein bisschen Biochemie. Es ist der einseitige Vergleich, der Unglücklichsein und Unzufriedenheit befeuern kann. Das Empfinden von Glück ist zudem kein Muss. Man darf sein Leben auch scheiße finden. Das ist vollkommen in Ordnung und legitim. Man hat sogar ein Recht darauf sein Leben zu beenden. Es gibt keine allgemeine Pflicht zu leben.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, empfinde ich mein Leben freier und leichter. Was soll denn schon großartig passieren außer, dass ich sterbe. Es zwingt mich niemand und ich will ja leben. Eine Bedingung muss zu meinem Glück allerdings gegeben sein: Ich will selbstbestimmt und mitten in unserer Gesellschaft am Leben teilhaben oder dort leben und sterben, wo es mir beliebt. Ich will mein Leben weiterhin selbst gestalten können und damit auch Verantwortung für mein Glücklichsein übernehmen. Es ist mir zu einfach, den bösen Geistern das Feld zu überlassen und mich selbst zu bemitleiden.
Das ist meine Sicht auf unsere Situation und es liegt mir fern, die Krankheit ALS zu verharmlosen. Familie, Freunde, unser Team, Ärzte, Therapeuten, mein fantastischer Arbeitgeber und viele andere Menschen stärken uns den Rücken. Dies löst kein einziges Problem, welches uns mit der Krankheit ALS ungefragt in unseren Lebensweg gelegt worden ist. Es schafft nur nach Möglichkeit keine zusätzlichen Probleme. Denn davon gibt es mehr als genug im Schlepptau einer ALS.
Wer sich näher mit ALS beschäftigt merkt, dass der Verlauf der Erkrankung meist recht schnell ist und in kürzester Zeit massive Einschränkungen auf die Betroffenen und ihre Familien zukommen, die äußerst belastend sind. Es gibt noch keine wirksame Therapie, die Forschung ist völlig unterfinanziert und durchschlagende Erfolge sind zu meinen Lebzeiten illusorisch. Hinzu kommen häufig existentielle finanzielle Sorgen und ein bürokratischer Marathonlauf mit episch langen Prozessabläufen bei Behörden, Krankenkassen und dem Medizinischen Dienst, wodurch die Krankheit stets in Führung liegt. Hinzu kommen fehlende Unterstützungsangebote, Grabenkämpfe mit Krankenkassen, mangelndes Fachwissen und Resignation über den unzureichenden politischen Willen, daran etwas ernsthaft zum Wohle der Betroffenen zu ändern. Stattdessen wurde von Seiten der Bundesregierung die häusliche Intensivpflege sogar torpediert. Da kann man schon mal verzweifeln. Gestern noch mitten im Leben und plötzlich gefühlt ein Mensch zweiter Klasse und Bittsteller.
Unsere Herausforderungen sind gewaltig und es wäre ein Leichtes zu resignieren und in Selbstmitleid zu verfallen. Manchmal ist das sogar verlockend. Es war und ist eine tägliche Herausforderung sich diszipliniert auf die Suche nach dem Glück zu machen. Die Suche abzubrechen ist für mich keine Option, denn ich lebe nicht nur für mich. Ich trauere keiner illusorischen Vorstellung meiner selbst als ewig junger und gesunder Mensch nach, und ich liebe nicht nur mich, sondern auch meine Lieben, für die ich scheinbar mehr bin als das, was ich einmal war.