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Bergpredigt

Christian Bär • 29. September 2019

Helm ab zum Gebet. 


Sicherheitshinweis: Wenn möglich, halten Sie ein Glas Nutella und einen Löffel griffbereit, Nutoka geht natürlich theoretisch auch. 

Schon wieder Herbst, erstaunlich wie die Zeit vergeht. Das Schöne daran ist: Ich lebe. Dies kann nicht jeder von sich behaupten, die Toten dürften sich besonders schwer mit dieser Aussage tun. Und da sind leider in letzter Zeit einige von uns gegangen. Viele hatten ALS, waren aber von meinem Eindruck her, noch relativ fit, wenn man das so nennen darf. Mein Umgang mit solchen Themen ist eher „Eiche rustikal“. Wenn das nicht jedermanns Sache ist, verstehe ich das und bitte um Entschuldigung, es liegt mir fern, Schicksale gewichten zu wollen oder zu verletzen. Es mag daran liegen, dass ich meinen Zustand nicht per se als schlimm empfinde, sondern für mich als Standard definiere, so gut das eben geht. Sehr komplexes Thema, wie ich finde, vielleicht später dazu ein paar Worte mehr. Nun bin ich schon nach 60 Wörtern völlig vom Thema abgekommen, im Vergleich, ein „Vater unser“ hat 63. Gott sei Dank bin ich kein Priester geworden, ich wäre selbst beim „Vater unser“ abgeschweift und müsste bei der heiligen Kommunion Lunchpakete mit rausgeben, damit mir beim mehrstündigen Überziehen keiner unterzuckert. Zurück zu den Toten. 

Viele liebe Menschen mit und ohne ALS sind unverhofft gegangen. Um es mit den Worten von Michaela Klingen zu sagen „Glaub die Diagnose, nicht die Prognose“. Als ich meine Diagnose erhielt, wussten einige, losgelöst von ALS, nicht, dass sie vor mir gehen müssen, und das war auch bei objektiver Betrachtung nicht zu vermuten. Das zeigt, dass niemand davor gefeit ist, morgen schon die Augen final zu schließen und dass es noch viele andere Krankheiten gibt, die für zügiges Ableben sorgen. Man soll nicht glauben, ein Exklusivrecht auf elende Last zu haben. 

Ich erfreue mich meines irdischen Daseins und bin unterm Strich ein glücklicher Kerl. Dies liegt hauptsächlich daran, dass ich bei meiner Frau und meinem Sohn leben darf, umgeben von Menschen, die mich lieben, dass ich frei über mein Leben bestimmen kann, man mich respektiert und würdevoll behandelt. Bei all den schönen Momenten soll aber kein falsches Bild entstehen. Unser Glück ist harte Arbeit unter Bedingungen, wie ich sie keinem wünsche. ALS frisst sich bis in den letzten Winkel des Alltags der Betroffenen. 

Es wird beschwerlicher. Die Last der ALS nimmt stetig zu. Dennoch gibt es sie, die glücklichen und schönen Momente. Sie könnten durchaus häufiger sein, hätten wir nicht mit erschwerten Bedingungen durch äußere Einflüsse zu kämpfen. Mit der Bürde ALS müssen wir leben, dagegen ist leider noch kein Kraut gewachsen. Es kostet unendlich viel Kraft, die Stellung zu halten, ständig eine Ausweichstellung zu beziehen, ein ständiges Rückzugsgefecht zu führen, mit dem Wissen, dass hinter uns der Abgrund wartet. Wir versuchen, möglichst viel Zeit in den Kampfpausen zu nutzen, um die Aussicht zu genießen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Normalität zu leben, glücklich zu sein.

Mein gesundheitlicher Zustand hat sich in den letzten Monaten weiter verschlechtert. Ich gebe zu, dass das die gesamten letzten drei Jahre der Fall war. Der Abbau in den letzten drei Monaten war nicht schneller, nur geht wieder ein markanter Abschnitt zu Ende und ein neuer beginnt. Mit dem Muskelverlust ist das grob dargestellt wie folgt: Sie können gehen aber immer schlechter, aber sie können gehen, ohne Hilfsmittel. Irgendwann ist dieser Abschnitt zu Ende und die Erdanziehung zu groß. Im neuen Abschnitt benutzen Sie einen Rollator. Das geht täglich schlechter, aber es geht, bis auch hier die Erdanziehung übermächtig wird. Abschnitt beendet, Rollstuhl. Flankiert wird das von tausend weiteren Tätigkeiten, die zuerst beschwerlich werden und dann unmöglich, wie zum Beispiel Besteck benutzen, Tür aufschließen, Waschen, Autofahren, Zähneputzen, Treppengehen, Kochen, Schreiben, Singen, Kratzen, Sprechen, Kauen, Schlucken und Augen öffnen. 

Meine stärkere linke Hand ist nun so schwach geworden, dass ich Probleme habe, den Rollstuhl zu fahren. Daher kommt demnächst eine Sondersteuerung, die hoch sensibel reagiert, so dass ich mit der Restkraft den Rollstuhl steuern kann. Zudem benötige ich eine Begleitsteuerung, damit mich jemand fahren kann, sollte ich gerade unpässlich sein. Wie lange dieser Abschnitt dauert, ist unbekannt. Danach bleibt in meinem Fall nur noch eine Augensteuerung mit einer speziellen Brille. Diese durfte ich bereits erproben. Aus Sicht des Informatikers ist das Ding eigentlich kein Hexenwerk, aus meiner Sicht als Betroffener ist es der absolute Knaller. Dennoch ist eine manuelle Steuerung immer direkter und einfacher, weshalb jetzt erstmal der Joystick zum Einsatz kommt. 

Eine weitere Verschlechterung betrifft die Atmung. Ich habe nun gelegentlich das Bedürfnis, auch tagsüber künstlich beatmet zu werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Ich benötige ständig geschultes und examiniertes Personal, und mein Rollstuhl wird durch die zusätzlichen Anbauten für Beatmung und Steuerung bald noch sperriger. Dieser Umstand in Kombination mit der schwinden Kraft in der Steuerhand und der Begleitsteuerung, machen die Nutzung unseres derzeitigen Autos auf kurze Sicht unmöglich, da bei diesem Modell der Rollstuhl im Auto rangiert werden muss. Das wird zu eng zum Wenden im Auto. Zukünftig benötigen wir ein Auto, in dem ich im Kofferraum mitfahren kann. Diese Karren sind rar gesät und kein Schnäppchen. 

Die ALS lässt uns keine Verschnaufpause. Selbst das extra umgebaute Bad kommt nun mit dem Pflegeduschrollstuhl an seine räumlichen Grenzen. Da ich nicht mehr gerade sitzen kann und der Kopf hängt, benötige ich nun einen kantelbaren Duschstuhl mit Kopfhalter, damit ich quasi im liegen Duschen kann. Das Teil ist riesig und optisch emotional eher das Modell „Frankensteins Monster“. In Zukunft müssen die Pflegekräfte eine Fortbildung im russischen Staatszirkus als Schlangenfrau machen, um sich zwischen den ganzen Gerätschaften im Bad bewegen zu können. Und das ist eine der bestbesuchten Lokationen im Haus. Ich verbringe täglich zwei Stunden im Bad für Grundpflege und dann wurde ich noch nicht geschminkt. Auch der Umbau des Büros zu meinem Pflegezimmer wird konkret und aufwändiger als gedacht. Wir machen nur das Nötigste, was trotzdem eine Renovierung und viel Arbeit bedeutet.

Dies alles stand so ja irgendwie in der Programmvorschau. Was ich nicht gedacht hätte, ist, dass mich die äußeren Einflüsse dermaßen belasten. Betrachte ich mir meine letzten Blogartikel, beschäftigen diese sich weniger mit mir und meiner Sicht auf die Welt sondern mit Themen, die unser eh schon sportliches Familienleben bis an die Schmerzgrenze strapazieren. Seit der Verleihung des Grimme Online Award wird monatlich eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Die Streitereien mit der Krankenkasse, das unterirdische Verhalten des MDK, die EMA (Arzneimittelbehörde der Europäischen Union) und der Rückzug des Zulassungsverfahrens von Edaravone, und last but not least der Gesetzesentwurf aus dem CDU-geführten Hause des Herrn Minister Jens Spahn. Dieser regt mich dermaßen auf, dass es sich negativ auf meine Gesundheit auswirkt. Laut dem Gesetzentwurf zur Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz „Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz – RISG“, müssen ich und alle anderen Patienten mit einem besonders hohen Pflegebedarf vollstationär ins Heim. Eigentlich wollte ich mich in diesem Artikel nicht darüber aufregen, aber jetzt wo wir schon mal beim Thema sind, komme ich um eine kurze Predigt nicht umhin. 

Es ist mehr als schäbig, was Herr Spahn mit diesem Gesetzentwurf zu erreichen versucht. Sollten Ihnen die Hintergründe noch unbekannt sein, können Sie diese in meinem Blogartikel „Gute Heimreise“ nachlesen. Unter dem Deckmantel, die Qualität verbessern zu wollen, werden rein finanzielle Ziele verfolgt. Dies versucht man natürlich zu verneinen, man wolle doch nur das Beste für die Patientinnen und Patienten. Ich kaufe auch dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) nicht ab, dass man aufgrund mangelnden Wissens hier danebengegriffen hat, und nun interessiert zuhört, damit man optimieren kann. 

Meiner Meinung nach wusste man genau, was man tat. Das war vorsätzlich, mit Wissen und Wollen. Es ging zu keiner Zeit vorrangig um das Patientenwohl, sondern um das Befriedigen finanzieller Interessen anderer. Man hat sich weder die Mühe gemacht, die Situation zu analysieren, noch ist man bestrebt, Probleme zu lösen. Und zu sagen, dass das doch nur ein Entwurf wäre, dass es keinen Grund zur Aufregung gäbe, schließlich berate man ja noch, ist völlig inakzeptabel und moralisch höchst verwerflich. In diesem Entwurf werden essenzielle Rechte torpediert, das ist kein Kavaliersdelikt. 

Kann man in einen Entwurf denn alles schreiben, nur weil es noch beraten wird? Was steht als nächstes in Entwürfen der CDU? Vielleicht „Gesetz zur Wiedereinführung von Standgerichten zur Verbesserung der Servicequalität für den Bürger durch Verkürzung der Wartezeiten und zur Amtshilfe der Justiz - kurz SSAHJG“? Natürlich beurteilt der Leitende des Standgerichtes auch immer angemessen die individuellen Umstände und kann in Ausnahmefällen bei Unzumutbarkeit ein ordentliches Gerichtsverfahren gestatten. Alles nicht ja so schlimm, würde ja erst noch beraten. Bitte nicht aufregen. 

Verkehrte Welt. Jetzt wo draußen fleißig und besorgt an die Tür des Ministeriums geklopft wird, wird drinnen Kreide gefressen und man gibt sich verständnisvoll. Neue Taktik. Man hört sich alle Bedenken an, wird den Entwurf vermutlich abändern, aber trotzdem am Zielbild in Form von finanziellen Ergebnissen festhalten. Ich vermute, man wird Rahmenbedingungen schaffen, die zum selben Ergebnis führen. Zum Beispiel könnte man "im Sinne des Patienten" die Anforderungen an Personal und Pflegedienst im ambulanten Bereich derart hochsetzen, dass sich weder ausreichend Personal finden lässt noch ein wirtschaftliches Anbieten der 1zu1-Versorgung möglich sein wird. Dann darf der Patient zwar frei wählen, aber wenn es keinen Pflegedienst gibt, da wird die Wahl wohl eng. Bitte beachten, liebes Ministerium, so mancher hat sich an solch einem Vorhaben auch schon verschluckt! 

Das man das Problem nicht lösen will, erkennt man daran, dass man überhaupt keine Detailinformationen hat. Corinna Rüffer (B90/Die Grünen) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und hat eine parlamentarische Anfrage an das Ministerium von Herrn Spahn gestellt. Sie hatte sich danach erkundigt, in wie vielen Fällen Betreiber sogenannter Beatmungs-WGs gegen gesetzliche Vorschriften oder Vereinbarungen mit den Krankenkassen verstoßen hätten. Das Ministerium nannte in seiner Antwort aber keinerlei Zahlen, sondern verwies unter anderem auf eine Reihe von Ermittlungsverfahren. Es interessiert nicht, man will ins Heim verschieben und sich nicht mit Problemlösungen beschäftigen. 

Es wird so getan, als wäre die Heimunterbringung der Garten Eden. Dass es zahlreiche Skandale in Heimen gab, und dass es auch dort, wie überall, schwarze Schafe gibt, bleibt völlig außen vor in der Diskussion. Gibt man bei Google die Suchbegriffe „Pflege Skandal“ ein, bekommt man eine umfangreiche Auflistung von Pflegeskandalen in den letzten Jahren in ganz Deutschland, wie zum Beispiel in Augsburg, Krakow, Güstrow, Untermerzbach, Oldenburg, Delmenhorst, Krautheim, Mülheim, Sonthofen, Bonn, Hannover, Ludwigsburg. Aber auch im kleinen Saarland gab es prominente Skandale in Saarbrücken, Völklingen und Elversberg. Die Fälle sind alle aus stationären Einrichtungen, hauptsächlich Pflegeheimen. Es kam zu Misshandlungen von Schutzbefohlenen, Körperverletzung, Betrug, Verwahrlosung, Drohungen, bis hin zu mehreren Mordversuchen und Morden. Es wurden zu wenige Mitarbeiter eingesetzt und abgelaufene Medikamente ins Essen gemischt, um Bewohner ruhig zu stellen. Verletzte wurden tagelang nicht versorgt, Windeln nicht gewechselt, und hygienische Standards nicht annähernd eingehalten. Die Aufsicht in den Heimen hat in den meisten Fällen völlig versagt, teilweise trotz konkreter Hinweise, oder war sogar involviert. Interessanter Weise waren keine Suchergebnisse von Skandalen in der ambulanten Pflege dabei. Natürlich ist dies keine vernünftige Datenbasis, um Aussagen treffen zu können und auf der Entscheidungen gefällt werden können. Die Datenlage beim Ministerium erscheint mir allerdings keinen Deut besser zu sein. Dennoch zeigen diese zahlreichen Beispiele, dass es auch in Heimen krasse Verfehlungen gibt, und sicherlich ist die Dunkelziffer viel höher. Und ja, auch in der ambulanten Pflege, insbesondere in der Intensivpflege, gibt es schwarze und kriminelle Schafe, Ochsen und Schweine, im Vergleich funktioniert die Aufsicht aber besser. Denn zuhause ist die Aufsicht Ehemann, Ehefrau, Sohn, Tochter, Mama oder Papa, und intrinsisch motiviert, dass es dem Angehörigen gut geht. Diese unbezahlbare Triebfeder nennt sich Liebe.

Immer mehr internationale Finanzinvestoren drängen in die Pflege. Nicht aus Liebe zum Menschen, sondern um Rendite zu machen. Das ist ein riesiger Markt, immer mehr Pflegeheime werden verkauft. Um mal ein Gefühl zu bekommen: Dezember 2017 wurde die Alloheim-Gruppe laut Stuttgarter Zeitung vom 16. Februar für 1,1 Milliarden Euro von dem Finanzinvestor Carlyle Group an Nordic Capital verkauft. Laut Handelsblatt kaufte der französische Investor Primonial ein Portfolio des Pflegedienstleisters Charleston aus 20 Pflegeheimen mit knapp 2000 Betten in sechs Bundesländern. Rund die Hälfte der Altenpflegedienste in Deutschland sind in privater Hand. Rolex, Porsche, Haus, Gold, Ländereien, alles Statusobjekte von gestern, der Profi zählt seinen Reichtum anhand der Anzahl von Pflegebetten. Früher gab es Quartett mit Militärfahrzeugen, Zügen, Rennautos, zukünftig spielt man Pflegeheim-Quartett und macht einen Stich mit der Anzahl von Pflegebetten, der Rendite der Einrichtung, dem Personalschlüssel oder der Anzahl Pflegeskandale. Der Staat zieht sich aus diesem Bereich zurück und überlässt somit den privaten Anbietern das Feld. Bei Polizei, Feuerwehr, Schulen und Kindergärten wäre das undenkbar. Noch. Auch hier gibt’s ja bereits erste Entwicklungen in diese Richtung. Die Investoren interessiert es einen feuchten Kehricht, wie es in den Häusern läuft, wie die Zustände im Heim sind. Sie sind viel zu weit weg und an zweistelliger Rendite interessiert, Verantwortung wird abgeschoben. Dann bleiben die Windeln an, bis sie auslaufen, und das Personal wird bis über die Schmerzgrenze reduziert, dann stimmt auch die Rendite. Wer den Mund aufmacht, bekommt Druck oder fliegt direkt. Und wo der Trend am Anfang des Jahres noch in Richtung ambulanter Versorgung ging, ist bei den Investoren bestimmt Goldgräberstimmung ausgebrochen, als der Gesetzesentwurf veröffentlicht wurde, das “Ab-ins-Heim-Gesetz“. 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es gibt definitiv auch gute Heime und ein Großteil der Pflegerinnen und Pfleger in Heimen leisten aufopfernd bewundernswerte Arbeit, ebenso wie im ambulanten Bereich. Aber wer in seiner Argumentation solch einseitige Augenwischerei betreibt, dem muss man auch das andere wischen. Nichts wird dadurch besser, alle sehen verschwommen und einige wenige können in Ruhe Geschäfte machen. Selbst wenn das Heim der Garten Eden wäre, will ich selbstbestimmt entscheiden können, ob ich dort leben möchte. Zudem ist eine stationäre Umgebung gerade aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr wesentlich gefährlicher und lebensfeindlicher, Stichwort multiresistente Keime, insbesondere für beatmete Patienten. 

Apropos ein sehr interessantes Thema. Weltweit haben alle großen Pharmaunternehmen die Forschung im Bereich Antibiotika komplett eingestellt, zu wenig Gewinn. Soziale Verantwortung und Gewissen – Fehlanzeige. Ähnlich verhält sich das mit der Entwicklung neuer Medikamente für seltene Erkrankungen, wie zum Beispiel ALS. Für die Pharmaindustrie sind seltene Erkrankungen uninteressant, alles was keine Rendite bringt ist uninteressant. Lieber wird ein neues Krebsmedikament entwickelt, das keinen Mehrwert gegenüber den vielen anderen Präparaten auf dem Markt hat, wenn sich eine gute Rendite abzeichnet. Wo ist staatliche Forschung, warum wird nicht reagiert und warum bestimmt die Industrie in dieser Maßlosigkeit? Auch hierzu gibt’s keine gescheiten Antworten von Herrn Spahn und seinem Ministerium. Jesus Maria, ich drifte völlig ab. 

Können Sie noch oder vielleicht lieber eine kurze Pause? Sie sind so stumm… 

[Pause]

Alle wieder da? Zurück zum Gesetzesentwurf des Herrn Spahn.  

Natürlich bin ich froh, dass man gesprächsbereit ist. Aber ich will zu bedenken geben, dass, wenn mich ein Mensch meiner Freiheit berauben will und ich darum bitten muss, das nicht zu tun, dies in höchstem Maße die Würde des Menschen verletzt. Insbesondere bei dem Habitus des Ministers in dieser Sache und dem Auftreten des von ihm verantworteten Ministerium. 

Die von dem Entwurf ebenfalls konkret betroffene Familie Wirth hat sich die Mühe gemacht und sich schriftlich an Jens Spahn gewandt. Sie haben umfangreich ihre persönliche Situation geschildert und ihre Ängste bezüglich des Gesetzesentwurfs. Kerstin Wirth ist 28 Jahre jung, seit 2012 an ALS erkrankt, seit 2013 beatmet, künstlich ernährt und komplett bewegungsunfähig. Lediglich ihren rechten Mundwinkel kann sie noch etwas bewegen und damit kommunizieren. Sie wird seit Juli 2013 24/7 zu Hause gepflegt und hat bereits früh in ihrer Patientenverfügung festgelegt, dass für sie nur die Pflege zu Hause in Frage kommt. Sie möchte auf keinen Fall in eine Pflege-WG oder ein Heim. Sollte dies nötig werden, also eine Einweisung in ein Heim oder eine WG, hat sie verfügt, die Beatmungsmaschine abschalten zu lassen. Das ist ihr gutes Recht. 
Die Antwort vom Ministerium war weniger umfangreich und nach zwei einleitenden Sätzen und der Information, dass man im Auftrag von Herrn Spahn antworte, kommt man zur Sache:

„[…] Lassen Sie mich daher an dieser Stelle Folgendes klarstellen:
Vom Gesetzentwurf nicht betroffen sind Pflegebedürftige, die keine 24-Stunden-Pflege durch eine Pflegefachkraft benötigen. Damit fallen Patientinnen und Patienten, die ausschließlich von Familienangehörigen betreut werden oder eine 24-Stunden-Assistenzkraft haben, nicht unter die Definition. Auch Patientinnen und Patienten, die mit einer 24-Stunden-Intensivbetreuung durch eine Pflegefachkraft am sozialen Leben teilnehmen, können weiterhin Anspruch auf Pflege zu Hause haben. Das wird im Einzelfall geprüft werden. Bei dieser Prüfung haben die Krankenkassen, die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände der Patientinnen und Patienten angemessen zu berücksichtigen. Ohne dass ich Ihren konkreten Fall beurteilen kann gehe ich daher davon aus, dass sich für Sie durch die geplanten Neuregelungen nichts ändern wird.
Ich hoffe, dass ich zu einem besseren Verständnis beitragen konnte. Der weitere Verlauf des Gesetzgebungsvorhabens bleibt nun zunächst abzuwarten. […]“

Danach kommen noch zwei Sätze Tralala, gefolgt von MfG und Signatur. Respekt. Eine absolute Frechheit vom BMG. Das übliche Schema, was ich ja bereits aufgezeigt hatte, nun sogar schriftlich. Man zählt zuerst mal auf, für wen der Gesetzentwurf nicht gelten soll. Dies steht aber so auch nicht im Entwurf, was aber auch egal ist, da auch dieses Verständnis würdelos ist. Was hat das Ministerium geritten, solch ein despektierliches, empathieloses und grottenschlecht argumentiertes Schreiben zu verfassen? Zum Fremdschämen dieses Niveau.

Am besten ist die fachmännische Einschätzung gelungen: „Ohne dass ich Ihren konkreten Fall beurteilen kann gehe ich daher davon aus, dass sich für Sie durch die geplanten Neuregelungen nichts ändern wird.“. Liebes Ministerium, Ihr solltet Euch wenigstens die Mühe machen, die Mail von Familie Wirth zu lesen. Oder hapert es beim Verständnis? Wo genau? Beim Verstehen der Mail von Familie Wirth oder beim Verständnis des eigenen Gesetzentwurfs? 

Ich versuche mal zu helfen. Familie Wirth hat Euch doch geschrieben, dass Kerstin rund um die Uhr von examinierten Pflegekräften betreut wird - nennt sich Intensivpflege. Nun zu Euren Aussagen:

Vom Gesetzentwurf nicht betroffen sind laut Ihrer „Definition“ Pflegebedürftige, 
  • die keine 24-Stunden-Pflege durch eine Pflegefachkraft benötigen, 
  • die ausschließlich von Familienangehörigen betreut werden, 
  • die eine 24-Stunden-Assistenzkraft haben. 
Freunde, ich bitte um Verstand. Kerstin schrieb Sie hat 24/7 INTENSIVPFLEGE. Nix trifft zu! Zudem gibt es in Ihrem Gesetzentwurf keine solche „Definition“. Im Gesetzentwurf auf den Seiten 6 und 21 steht, dass „Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an Behandlungspflege“ nur noch Anspruch auf Intensivpflege in vollstationären Einrichtungen oder Intensivpflege-Wohneinheiten haben, nicht mehr in der eigenen Häuslichkeit, und Ausnahmen nur gemacht werden, wenn dies nicht zumutbar ist, beispielsweise weil keine geeignete Einrichtung zur Verfügung steht. Fertig. 

Zurück zum Antwortschreiben. Nächstes Sahnestück:
  • Auch Patientinnen und Patienten, die mit einer 24-Stunden-Intensivbetreuung durch eine Pflegefachkraft am sozialen Leben teilnehmen, können weiterhin Anspruch auf Pflege zu Hause haben. Das wird im Einzelfall geprüft werden. Bei dieser Prüfung haben die Krankenkassen, die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände der Patientinnen und Patienten angemessen zu berücksichtigen. 
Kerstin kann noch mit dem Mundwinkel zucken, die letzte Möglichkeit der Kommunikation, sie ist ansonsten vollständig bewegungsunfähig. Wie definieren Sie, liebes BMG, Teilnahme am sozialen Leben? Dies soll dann im Einzelfall unter angemessener Berücksichtigung der Umstände geprüft werden. Wie müssen die Umstände denn sein? Wie definieren Sie „angemessen“? Definitionen sind irgendwie nicht Ihr Ding. 

Wenn das Gesetz so ne feine Sache wäre, dann könnte man doch schreiben "Herzlichen Glückwunsch, Sie sind vom Gesetz betroffen. Das ganze BMG freut sich wie irre für Sie und Jens hat sogar feuchte Augen vor Freude. Das ist das Beste, was Ihnen passieren konnte, welch ein Jubeltag. Im Auftrag des Ministers laden wir Sie zur Feier des Tages auf ein Eis ein (2 kleine Kugeln oder 1 Softeis für die Magensonde)". Stattdessen schreibt man eine respektlose Mail, die jegliches Taktgefühl vermissen lässt und zudem als eine Beleidigung der Intelligenz des Empfängers empfunden werden kann. 

Interessanter Weise muss jeder, der Herrn Spahn öffentlich fragt, auch nicht ins Heim, das gilt immer nur für die anderen. Aber ist das Gesetz erst da, interessiert die Kasse sich nicht mehr für Zusagen. Der Entwurf wird in meinen Augen völlig verharmlost. Nur öffentlicher Druck kann hier was bewirken. Sachargumente finden derzeit, zumindest bei Herrn Spahn, meiner Meinung nach wenig Gehör. Würde es um die Sache gehen, sähe der Entwurf anders aus. 

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind schutzbefohlener Schüler und Ihr Lehrer, der Sie schützen sollte und dem Ihr Wohlergehen seine Berufung sein sollte, verpasst Ihnen mitten auf dem Pausenhof eine schallende Ohrfeige und hebt drohend erneut die Hand. Sie sind geschockt und weinen laut, sie schreien das erfahrene Unrecht laut raus, in der Stimme Panik vor dem was Ihnen droht. Die anderen Schüler werden aufmerksam, schauen hin, die sechsjährigen ziehen ihr iPhone X aus der 501 und posten es bei Facebook, und das Mädel von der Schülerzeitung spitzt den Griffel. Daraufhin wird der Lehrer etwas nervös und sagt, das wäre alles nur zu Ihrem Besten, die Reaktionen wären völlige Panikmache und mit der Hand wolle er Schatten spenden, Selbstbestimmung wäre, wenn ich die andere Wange hinhalte. Aber er sei ja gesprächsbereit und Sie dürfen nun sagen was Sie stört, dann überlegt er es sich nochmal ob er sie verwamst. Wie gnädig und eine äußerst vertrauensvolle Basis für weitere Gespräche. So ungefähr fühlt sich das an. Ich bin wahrlich ein friedliebender Kerl, harmoniebedürftig, nicht nachtragend und versuche Konflikte zu vermeiden, aber ich halte nicht die Wange hin, dann läuft das eben anders. 

Nun schließe ich für heute die Akte RISG. Falls Sie es bis hierhin geschafft haben: Danke. Ich hoffe Sie sind nicht unterzuckert, in Zukunft wird es kürzer, ich bemühe mich zumindest. Die Predigt war lang und ich hoffe unsere Gebete werden erhört. Ich wünsche es mir so sehr für alle Betroffenen und ihre Familien, ich glaube an unser Wunder. Die vielfältigen Belastungen sind äußerst herausfordernd. Hinzu kommt, dass ich auch nicht immer ein Geschenk bin, dafür brauchte es aber keine ALS. Die Nerven sind durch den ganzen Mist allerdings dünner geworden, die Lunte kürzer. Früher konnte ich viel über körperliche Arbeit und Sport regulieren, heute fühle ich mich zwar täglich, als hätte ich einen Marathon absolviert, aber die Endorphine vom Zieleinlauf fehlen. Der Kopf muss viel regulieren. Mitunter hat es sich bewährt, emotional nicht auf jeder Hochzeit zu tanzen. „Eiche rustikal“ eben. Ein Titel von einem Buch hat mich diesbezüglich sehr inspiriert: „Am Arsch vorbei geht auch ein Weg“. Jetzt schweife ich schon wieder aus, trotz guter Vorsätze. Er war stets bemüht. 

Eigentlich wollte ich auch noch ein wenig über unseren Last Minute Urlaub im September in Holland erzählen, von den besonderen Herausforderungen, die dieser Urlaub mit sich brachte und den gewonnenen An- und Einsichten. Ein anderes Mal, sonst wird’s womöglich noch ein Buch. Heute ist nicht alle Tage, ich komm‘ wieder, keine Frage. Das ist zumindest der Plan. Amen. 

Ich bete an die Macht der Liebe
von Christian Bär 21. Dezember 2022
Ein persönlicher Jahresrückblick
von Christian Bär 25. April 2022
Ein Hoch auf die Technik
Sonnenuntergang in Zeeland
von Christian Bär 23. Oktober 2021
Unsere Suche nach dem Glück im Unglück
Christian Bär, madebyeyes, im elektrischen Rollstuhl von permobil auf einem Feldweg im Saarland
von Christian Bär 8. Mai 2021
Ein Lagebild und Frontbericht über unseren Kampf ums Glücklichsein
von Christian Bär 18. Januar 2021
Geschafft, ich habe das Jahr 2020 überlebt. Eine nicht selbstverständliche Sache, auch ohne ALS-Erkrankung und ohne Corona-Pandemie. Ein endlicher Spaß, dieses Leben, mit garantiert tödlichem Ende. Also bitte keine Klagen am Ende, von wegen Sie hätten es nicht gewusst. Sie können nun weiterhin so leben, als wären Sie davon ausgenommen und würden einen Exklusivvertrag auf ewiges Dasein mit Gott beziehungsweise dem Teufel Ihr Eigen nennen, aber spätestens jetzt wissen Sie Bescheid – tut mir leid für den Spoiler. Und es kommt noch schlimmer: Sie können nix mitnehmen, denn der Fährmann kommt mit dem Einbaum, da ist kein Platz für Gepäck. Sie gehen allein. Ein Oneway-Ticket für eine Person, ohne Gepäck, für eine Fährfahrt und „Meet & Greet“ mit dem Kapitän, dem berühmtberüchtigten Fährmann. Als mögliche Routen werden derzeit der Jordan und die Wupper angeboten. Leider kurz, aber angeblich eine schöne Überfahrt. Es gab im letzten Jahr gefühlt nur drei große Themen bei uns: Corona, IPReG und meine Pflege. Mehr oder weniger drehen sich diese Themen alle um mein Überleben. Das Leben fand zwar statt, aber im Vergleich zu den Vorjahren in sehr eingeschränkter Form. Dies lag hauptsächlich an Corona und der unaufhaltsam fortschreitenden Krankheit ALS. Garniert wurde es um die Sorge wegen der neuen Gesetzeslage und aufgehellt durch die Veränderungen bezüglich meiner persönlichen Pflegesituation. Aber dazu später mehr. Ich freue mich erstmal unter den Überlebenden zu sein. Ich finde es immer erstaunlich, dass wir dem Wechsel einer Zahl eine derart große Bedeutung zumessen. Da wird die 18 zur 19 oder die 20 zur 21, und viele von uns atmen auf. Warum eigentlich? Was ändert sich denn durch die neue Zahl? Und warum sind wir froh, obwohl damit auch unser „Meet & Greet“ näher rückt? Es soll besser werden im neuen Jahr. Das ist wohl die gängige Grundmelodie des Wunschkonzertes an jedem Silvester. Dieser Wunsch geht einher mit vorsätzlichen Selbstgeißelungsbestrebungen in den kommenden Monaten, den guten Vorsätzen. Die Jahreszäsur führt bei vielen Menschen zur Selbstreflexion. Das wäre unterjährig zwar ebenso möglich und wünschenswert, wird aber aus Bequemlichkeit vermieden. Ähnlich verhält es sich mit den guten Vorsätzen. Diese fristen in einer Kiste in einer dunklen Ecke im Oberstübchen ihr unbeachtetes unterjähriges Dasein, bis diese Ecke an Silvester kurz durch das Licht des Feuerwerks erhellt wird. Wir kramen dann mit einigen Bieren, einem Schluck Wein und ein paar Grappa, mit glasigen Augen und glänzend gespanntem Bauchnabel rührselig in der Kiste und in unseren Erinnerungen. Auf einer Woge der Sentimentalität reitend beschließen wir, fortan die Kiste ins rechte Licht zu rücken. Diesen Beschluss und den kurzen Moment des persönlichen Weltfriedens begießen wir dann feierlich mit zwei prickelnd brillanten Söhnlein oder artverwandten Vertretern, bevor wir uns nach dem letzten Zisch, Peng, Uuuuh, Aaaah und Ooooh mit einem Jieper durch die Reste des mittlerweile kalten Buffets fräsen. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt im Jahr kapitulieren häufig die ersten guten Vorsätze unter der streng wehenden Fahne aus einer Grappa-Frikadellen-Nudelsalatkombination und ziehen sich desillusioniert und vernichtend geschlagen mit einem seufzenden Rülpser zurück ins Dunkel, wartend auf ihren großen Tag des Durchbruchs oder eben den nächsten Kurzauftritt an Silvester. Vielleicht wieder etwas überzeichnet. Der Vorsatz, künftig weniger zu überzeichnen, kommt in meine Kiste für nächstes Silvester, so es denn für mich eins gibt. Bei mir ist das nicht anders mit den guten Vorsätzen. Ich hatte mir vorgenommen, mich 2020 nicht mehr so aufzuregen und die gewonnene Energie in unser Familienleben zu investieren. Leider kam ich nicht umhin, mich 2020 mächtig in meinen Beiträgen zu echauffieren, weil mitunter genau dieses Familienleben bedroht wurde. Das unsägliche Verhalten von Jens Spahn und das peinliche Trauerspiel von CDU und SPD beim Gesetzesentwurf vom „Ab ins Heim“-Gesetz, dem heftig umstrittenen Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV IPReG vormals RISG), trieb meinen Puls in die Höhe. Nach meinem Ermessen war die Aufregung absolut gerechtfertigt und in der Sache richtig. Sollte ich dennoch mal einen Tiefschlag gelandet haben, bitte ich, diese Unsportlichkeit und meine Unzulänglichkeiten zu entschuldigen, rechtfertigt doch das Fehlverhalten anderer nicht mein eigenes. Nun ist dieses Gesetz in Kraft getreten und ich bin auf die ersten negativen Folgen durch das Verhalten der Krankenkassen gespannt, denen durch dieses Gesetz die Möglichkeit eingeräumt wird, Betroffene in eine stationäre Einrichtung zu nötigen anstatt die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen. Die Intensivpflege ist in einer stationären Einrichtung nämlich wesentlich günstiger, aber nach meinem Ermessen in den meisten Fällen schlechter für die Betroffenen, die eine häusliche Pflege bevorzugen. Man hat ein Gesetz geschaffen, welches die häusliche Intensivpflege schlechter stellt und ganz klar die stationäre Pflege bevorzugt. Der bis dahin geltende Grundsatz „Ambulant vor Stationär“ wurde hier ad acta gelegt und mit dem Fachkräftemangel in der Pflege begründet. Ein Rückschritt, der scharf von Verbänden, Vereinen, Gutachtern, der Opposition, den Betroffen, dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung und diversen Fachleuten kritisiert wurde, da er das eigentliche Ziel, Betrug in der außerklinischen Intensivpflege zu verhindern, verfehlt und die Entwürfe zudem in mehreren Punkten die UN-Behindertenrechtskonvention verletzten, was Jens Spahn und die CDU wenig beeindruckte. Öffentlich wurde stets beteuert, es sei nur zum Besten für die Betroffenen, aber am Ende des Tages geht’s nur darum Kosten zu sparen und die häusliche Intensivpflege auszutrocknen. Wenn es um das Wohl der Menschen ginge, könnte man sich um die zahlreichen Pflegeskandale in den Pflegeheimen kümmern und Rahmenbedingungen schaffen, damit der Fachkräftemangel behoben wird. Dies spart aber weder Kosten noch beglückt es Aktionäre. Manchmal beschleicht mich eh der Verdacht, man denke, dass es in Heimen nicht mehr um den Menschen geht, sondern um Nutzvieh, das gehalten wird, um es zu melken, ihm die privaten Ersparnisse aus der Tasche zu ziehen und sich dies zusätzlich staatlich subventionieren zu lassen, sollte das private Vermögen aufgebraucht sein. Da lacht der Aktionär. Wie ich solch ein Verhalten finde, habe ich bereits in meinen Beiträgen zum Ausdruck gebracht. Zuerst funkt man 2019 auf allen Kanälen, dass man in Frieden komme, mit guten Absichten und hisst die weiße Flagge an Deck. Zeitgleich wird unter der Wasseroberfläche ein Torpedo auf Hilfsbedürftige abgefeuert, denn man fährt ausschließlich Geleitschutz für die Kostenträger, die mit diesem Gesetz einen Teil ihrer Ladung loswerden können, um mehr Platz für Überschüsse zu haben. Freunde, ihr seid Kostenträger und keine Überschussträger. Man reagiert nervös und angefressen auf Nachfragen und Kritik, will man doch die Mär vom Robin Hood erzählen bei der Hafeneinfahrt. Ich schweife schon wieder aus. Der nächste Vorsatz für meine Kiste: Nicht ausschweifen. Zurück ins Trockene und zum beschlossenen Intensivpflegegesetz. Somit baden nun vom Schicksal schwerstens getroffene Menschen das politische Versagen aus, dass die Pflegeberufe seit Jahren mit den Füßen getreten werden und somit, völlig verständlich, nicht genug Nachwuchs in diesem Metier gewonnen werden kann. Zeitgleich kehren immer mehr Fachkräfte frustriert und ausgelaugt ihrer Berufung den Rücken. Anstatt den Beruf aufzuwerten und neue höherwertige Qualifizierungsmöglichkeiten zu schaffen, die Verdienstmöglichkeiten und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, Aufgabenzuschnitte anzupassen, wurde im Kolonialstil versucht, günstige Pflegekräfte im Ausland abzuwerben, die unter diesen Bedingungen noch bereit sind zu arbeiten, damit wir Kosten sparen können. So die Theorie. Im Endeffekt müssten sich die abgeschöpften Länder dann in Zukunft mit unseren Problemen rumplagen, da ihr Pflegepersonal bei uns arbeitet. Deutschland 2020. Interessanter Weise wollte niemand kommen. Für mich und viele andere Betroffene ein riesiger Aufreger 2019 und 2020. Die Entwürfe aus dem Hause Spahn haben viele Betroffene in Angst und Schrecken versetzt. Nur durch den massiven und lautstarken Widerstand von Verbänden, Betroffenen, Vereinen und dem Protest der Opposition, insbesondere von den Grünen und der FDP, konnte das Schlimmste verhindert werden. Dennoch ist das Gesetz auch in der beschlossenen Form brandgefährlich für die häusliche Intensivpflege. Das Verhalten von CDU und auch der SPD fand ich beispiellos peinlich. Laut einer Umfrage der „Bild am Sonntag“ im Dezember 2020, ist Herr Spahn beliebtester Politiker in Deutschland. Besonders Frauen wünschen sich laut Umfrage, dass er mehr politischen Einfluss erhält. Wen hat denn das Meinungsforschungsinstitut da angerufen? Nur die Abonnentinnen der Superillu und der Bunten? Die Wahlberechtigten CDU-Mitglieder vom letzten Parteitag können es nicht gewesen sein. Beängstigend, sollte dies tatsächlich die einhellige Meinung sein. Wobei dies ja nur meine persönliche Meinung ist. Ich halte Herrn Spahn ohne Zweifel für einen der pfiffigsten in der Regierung unter Frau Merkel, jedoch tue ich mich mit seinem Habitus und seiner charakterlichen Eignung als Bundesminister schwer - auch wenn ich das Gefühl habe, dass die Pandemie Herrn Spahn etwas geerdet hat. Nun hat der argumentationsflexible und vom Verkaufsprofi Jens Spahn beworbene Herr Laschet den CDU-Vorsitz inne und es würde mich nichtgroßartig wundern, wenn Herr Spahn als Kanzlerkandidat antritt. Denn wie oben beschrieben geht’s heute darum, was sich gut verkauft. Tiefgang braucht man nicht viel, Hauptsache es reicht, um Torpedos ins Wasser zu lassen. Kapitän Merz hat seinen Torpedo bereits in Richtung des Panzerkreuzers Altmaier abgefeuert. Er hat angeboten, ab sofort das Wirtschaftsministerium zu übernehmen. Wie bescheiden und selbstlos von ihm. Blindgänger. Zum Glück. Außer einem vermutlichen Lachkrampf bei Frau Merkel, konnte dieser Vorstoß keine Wirkung erzielen. Ach herrjeh, ich mach schon wieder den Gottschalk, rede mich um Kopf und Kragen und überziehe abermals gnadenlos.. Ich versuche nun die Kurve zu bekommen, versprochen. Ein weiterer Punkt für meine Kiste: Fass dich kürzer, Christian! Gefolgt von „Weniger sticheln.“. Kommt aber frühestens nächstes Jahr zur Entfaltung oder im nächsten Leben. Wobei diese beiden Zeitpunkte, zumindest rein statistisch, bei meiner Lebenserwartung deckungsgleich sind. So oder so, es besteht Aussicht auf Besserung bezüglich meiner gespitzt ausschweifenden Schreibe für den sich davon gestört fühlenden Leser. Zum hoffentlich guten Schluss noch ein paar Informationen zur persönlichen Großwetterlage. Viereinhalb Jahre ist meine Diagnose ALS nun her, und die Zeit ist alles andere als spurlos an uns und meinem körperlichen Zustand vorbeigegangen. Dennoch muss ich konstatieren, dass ich mich, in Anbetracht der Umstände und im internationalen Vergleich, sehr lebendig und glücklich fühle und mich bis dato bester Gesundheit erfreue. Außer Muskeln fehlt mir nix. Was ein Glück – könnte schlechter laufen. Toi, toi, toi. Jetzt läuft die Bärenpflege schon über ein Jahr im Rahmen des persönlichen Budgets und wir sind mehr als glücklich, diesen Weg beschritten zu haben. Ein turbulentes Jahr neigt sich dem Ende. Ich hoffe, dass es nächstes Jahr etwas ruhiger zugeht und wir unser Team vollständig besetzen können und nicht wie dieses Jahr derart komplizierte Umstände aufeinandertreffen, die unsere Belastbarkeit und unseren Teamgeist unnötig fordern, Bei jedem ambulanten Pflegedienst hätte dies zu Versorgungslücken geführt, aber nicht so bei uns. Das ist der Verdienst meiner angestellten Pflegekräfte. Herzlichen Dank für Euren Einsatz. Vermutlich wird uns auch das neue Jahr vor Herausforderungen stellen, die jetzt noch nicht abzusehen sind. Wir können uns nur bestmöglich rüsten, den Deich aufschütten und frohen Mutes als Gemeinschaft agieren, aber dennoch können wir nicht die Sturmflut abschaffen. Ein wenig Gottvertrauen, Demut vor dem Unvermeidlichen und eine Prise Humor schaden somit nie. Auch wird sich mein körperlicher Zustand ohne das erhoffte Wunder weiter verschlechtern. Dies gehört aber zum Gang der Dinge, schließlich kämpft man mit ALS ums Überleben und nicht um den Titel Mister Universum. Dieses Jahr wird vermutlich ein Matchball-Jahr und Operationen werden nicht vermeidbar sein. Ich bin gewillt, den Teufel mit Gottes Aufschlag in den Tiebreak zu zwingen. Hoffen wir, dass wir punkten können. Ich geh nun meine Kiste mit den gesammelten guten Vorsätzen ins Oberstübchen suchen und will meinen Teil dazu beitragen, dass es ein gutes Jahr wird, und ich hoffe, dass jeder bestrebt ist, das Gleiche zu tun. Denn es liegt ausschließlich an uns, wenn`s gut werden soll. Wir alle haben eine Wahl und jede Entscheidung hat einen Preis. Selbst Nichtstun hat einen Preis. Ich kann davon ein Lied singen. Den Vorsatz „Abnehmen“ kann ich mittlerweile leider aus meiner Kiste herausräumen. Ich schmelze dahin wie Schnee in der Sonne. Das wars dann. Habe die Ehre 2020, du warst herausfordernd. Es war nicht alles schlecht, vieles werde ich vermissen. Trump aber zum Beispiel nicht. Auf geht’s in ein hoffentlich gutes, solidarisches, friedliches und gesundes Jahr 2021 voller Möglichkeiten und Chancen. Ich hoffe, dass 2021 in Summe entspannter wird und gegen ein Wunder, insbesondere in der Therapierbarkeit von ALS, hätte ich auch nichts einzuwenden.
von Christian Bär 9. November 2020
Wenn ich im Schlaf träume, dann sind es nie Alpträume. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal schlecht geträumt habe. Gefühlt liegt das Jahre zurück. Selbst am Abend der Diagnoseverkündung vor vier Jahren bin ich am frühen Abend völlig erschöpft eingeschlafen und habe bis morgens selig und bestens durchgeschlafen, und auch die darauffolgenden Wochen waren bezüglich meiner Nachtruhe unspektakulär. Daran erinnere ich mich so genau, weil es mich selbst verwundert hat, dass meine Träume gänzlich frei von negativen Gefühlen oder Ängsten waren. Durch die äußerst belastenden Umstände hätte ich durchaus erwartet, dass ich nachts einiges aufarbeiten muss und dass dies keine Wohlgefühlgedanken werden. Das war glücklicherweise nicht der Fall. Nun kann ich nur spekulieren, woran das lag und liegt, dass mir dies bisher erspart geblieben ist. Man könnte natürlich landläufig annehmen, dass es eine Laune der Natur ist, ich mit den Genen eines harten Hundes ausgestattet bin, meine empathielose Art noch nicht einmal vor mir selbst Halt macht und Gefühle selbst in der Größenordnung eines emotionalen atomaren Erstschlages an mir abperlen. Wer mich allerdings kennt, der weiß, dass diese einfache Erklärung nicht passt. Dennoch ist es sicherlich richtig, dass ich für mich und wir für uns einen Weg gefunden haben, damit klarzukommen, unser Leben zu meistern und Glück zu empfinden, bei vollem Bewusstsein um die Schwere meiner Erkrankung und der sich daraus ergebenden Herausforderungen. Dafür gibt’s meiner Meinung nach kein Pauschalrezept, wie man damit verfahren muss. Es ist mir sicherlich in die Wiege gelegt worden, eine gewisse Stressresistenz zu besitzen. Des Weiteren war unser Leben bis zur Diagnose auch nicht völlig sorgenfrei und wir hatten in unseren Leben gelernt, mit Kummer durch Krankheit umzugehen. Wir waren bereits geübt darin, auch unter widrigen Umständen handlungsfähig zu bleiben. Das Flankieren mit Humor ist ebenso eine hilfreiche Möglichkeit aus dem Arsenal der Lebensstrategien, Widrigkeiten im Leben die Stirn zu bieten. Es ist vieles Ansichtssache und somit abhängig vom eigenen Standpunkt. Manchmal bin ich nah an meiner Erkrankung, größtenteils verweise ich diese doch auf einen angemessenen Platz in meinem emotionalen Terrain, damit sie mir nicht die Sicht auf die schönen Dinge versperrt, die es nach wie vor in unserem Leben gibt. Ohne Frage bleibt die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, dennoch bei allem Humor und Optimismus eine der brutalsten Erkrankungen, die einem Menschen widerfahren können und deren Verlauf kaum vorstellbares Leid für die Betroffenen mit sich bringt. Da hilft dann die Übung nur bedingt, denn wirklich epochale Katastrophen sind in der Realität emotional viel zu brutal, als dass man sich darauf in irgendeiner Weise vollumfänglich vorbereiten könnte. Die Krankheit ist bis heute ein sicheres Todesurteil, aber das ist die Geburt auch. Im Unterschied wird das Urteil bei ALS allerdings im Schnitt nach vier Jahren gnadenlos vollstreckt. Es gibt bislang keine einzige wirksame Therapie, die das Überleben der Patienten wesentlich verlängern kann. Weder die Schulmedizin noch komplementäre Ansätze, weder sonstige alternative Heilverfahren noch bei Halbmond und Westwind um den Birnenbaum tanzen, können was reißen im Kampf David gegen Goliath. Natürlich hilft es, sonstige Baustellen zu schließen, damit die verbleibende Energie nicht unnötig verbraten wird und der Körper sich nicht mit Entzündungen oder sonstigen Unpässlichkeiten beschäftigen muss, denn mit dem Kraftverlust durch den rapiden Abbau sämtlicher willkürlich gesteuerten Muskeln ist das Dasein bereits beschwerlich genug. Es ist aber derzeit absolut illusorisch zu hoffen, man könnte sich dem Verlauf der ALS entziehen, egal womit. Der medial verkündete angebliche Durchbruch in der ALS-Forschung war leider völlig überzogen. Zwar gibt es Fortschritte in der Forschung, aber von einem Durchbruch ist das weit entfernt. Realistisch betrachtet sind die Erkenntnisse lediglich eine Hoffnung auf eine moderate Verlangsamung des Krankheitsverlaufs und zudem befindet man sich noch in der Studienphase. Es ist nicht mehr als ein Abkratzen der obersten Putzschicht der Bunkermauer ALS, aber auch nicht weniger. Derzeit gibt es in Deutschland nur ein einziges zugelassenes Medikament, das nachweislich den Verlauf der Krankheit verlangsamen kann, um etwa [Trommelwirbel – TUSCH] drei Monate. Das war’s – und schon klingt der Birnbaumtanz irgendwie gar nicht mehr so abwegig und aussichtslos. Forschung und Versorgung sind völlig unterfinanziert in Deutschland. Etwa 26 Euro stehen laut der Charité Berlin pro Patienten und Jahr für die klinische ALS-Forschung bereit. Schon beachtlich, wenn man mal vergleicht, wofür sonst große Summen anscheinend problemlos investiert werden, und oft sogar völlig sinnfrei. Herr Professor Meyer von der Charité hat mir wie folgt geantwortet: „Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine massive Unterfinanzierung vorliegt. Das betrifft die Grundlagenforschung, die klinische Forschung und auch die spezialisierte Versorgung. Selbst die ALS-Ambulanzen in Deutschland sind so unterfinanziert, dass bis zu 70 % aus anderen Mitteln beigesteuert werden müssen (Spenden, Drittmittelprojekte). Diese Unterfinanzierung ist der Grund, warum in Deutschland nur etwa 30 % aller Betroffenen im Verlauf ihrer Krankheit von einem spezialisierten ALS-Zentrum betreut werden. Der überwiegende Teil wird von regulären Neurologen versorgt. Das wäre ungefähr so als ob der Großteil der Krebspatienten keinen Kontakt zu einem Onkologen erhalten würden. Hinzukommt die von Ihnen adressierte Forschungsfinanzierung. Hier sind die Budgets in keiner Weise ausreichend.“ Aufmerksame Leser meines Blogs werden sicherlich bemerkt haben, dass das bereits in meinem ersten Blogartikel stand. Das war im Juli 2018. Was hat sich seitdem an diesen Umständen geändert? Nichts. Chapeau. Da schreib ich mir seit zwei Jahren Hornhaut auf die Augen und alles für die Katz, zumindest in diesem Punkt. Umso wichtiger bleibt das private Engagement in diesem Bereich. Hier zählt jeder Euro. Ich bitte Sie, die Forschung in diesem Bereich nach Ihren Möglichkeiten zu unterstützen. Steter Tropfen höhlt die Bunkerwand. Die Forschung hat einige gute Ansätze in petto und trotz bescheidener Mittel beachtliche Fortschritte gemacht. Nicht auszudenken, was wohl an Leid erspart bliebe, wenn sie ausreichend finanziert werden würde. Ich glaube an unser kleines Wunder. Nix großes. Ich erwarte keine Heilung. Spürbar mehr Zeit für mich und meine Familie, für Hannes‘ Weg, auf dem ich ihn doch so gerne noch begleiten will, darauf hoffen wir. Natürlich sind Wunder selten, aber nicht ausgeschlossen. Entscheidende Fortschritte in der Therapie von ALS halte ich nicht für ein Wunder, sondern für Fleißarbeit. Es wäre allerdings ein Wunder und traumhaft, wenn dies noch zu meinen Lebzeiten geschieht. Das ist meines Ermessens nur eine Frage der fehlenden beziehungsweise der ausreichend zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel. Mit meinen Träumen hat das allerdings wenig zu tun. Ganz selten sitze ich in meinen Träumen im Rollstuhl. Ich bin fast immer kerngesund, immer ohne Punkt und Komma am Reden und wie früher immer quirlig und flotten Schrittes unterwegs. Es sind schöne Träume. Ich labe mich morgens im Halbschlaf in der Erinnerung an sie und es ist wahnsinnig angenehm, endlich mal wieder sprechen zu können. Auch das Fahren Im Traum mit meinem alten BMW ist traumhaft – Freude am Fahren eben, da hat der Hersteller wohl alles richtig gemacht. Und erst das Essen – grandios. Vorgestern im Traum gab’s ein knuspriges Grillhähnchen von unserem Gasgrill und frische Pommes. Dass ich nur noch sehr wenige Sachen pürierter Form essen kann, ist einer der schlimmsten Verluste für mich, nach dem Stimmverlust, welcher bis dato die Rangliste der Entbehrungen meiner Erkrankung unangefochten anführt. Es ist schon hart, wenn ich zusehen muss, wie andere Currywurst und Pommes futtern, ohne zu wissen, wie genial das ist, dies einfach tun zu können. Ich kann mich leider nur noch am Geruch der meisten Speisen laben. Selbst den Geruch von Frittenfett mag ich mittlerweile. Wobei es auch Tage gibt, an denen ich anderen beim Essen von leckeren Speisen nicht zusehen kann und lieber den Raum verlasse, denn die Gelüste übermannen mich und mich überkommt eine Gefühlsmischung aus Neid und Wehmut. Ich habe nun insgesamt 40 Kilogramm seit Beginn der Erkrankung verloren, hauptsächlich Muskeln. Jedes Halten des Gewichts wird gefeiert, wohlwissend dass die Muskulatur dennoch schwindet. Aber über den Sommer habe ich Mops mein Gewicht gehalten. Wahrscheinlich liegt das am vielen Weizenbier, dem Cognac und dem Eierlikörchen vorm Schlafen, der vielen fettigen Pizza, den morgendlichen Brötchen mit warmem Leberkäse und Mayonnaise, dem allnächtlichen Käsefondue, den überbackenen Frikadellenbrötchen zwischendurch und der täglichen Jumbotüte Kartoffelchips zur Tagesschau, dem großen Döner mit extra viel Soße zum Abendessen und dem Tiramisu zum Nachtisch, dem Liter Frischmilch am Tag, den Nudeln mit Gorgonzola-Rahmsauce, Parmesan und viel gutem Olivenöl zu Mittag und dem Powershake mit zehn rohen Eigelb, gemixt mit einem Becher Sahne und einem Schuss Zitrone zum Wachwerden. Oder es liegt an den knackigen Trauben. Fructose ist ja auch Zucker, und Zucker ist böse, eine Ausgeburt des Teufels - das soll man nicht unterschätzen. Die Waage lügt nicht: Ich habe seit mehreren Monaten kein Gewicht mehr verloren. Mit etwas Sehschwäche und gleichmäßigem Hüpfen auf der Waage, könnte es sogar ein Pfund mehr sein. Da legt man sich extra ALS zu und dann sowas. Ich muss nun dringend drastische Maßnahmen ergreifen, um die drohende Fettleibigkeit abzuwenden. Ich wickel mich nun erstmal in Frischhaltefolie ein und dreh die Heizung hoch, um eine Kernschmelze einzuleiten, dann hüpf ich auf meinem Trampolin und mach dabei Hula-Hoop, während ich den Shoppingkanal schaue und alles kaufe, was vielversprechend beworben wird. Danach Joggen, Wasserball, Power-Yoga und Step-Aerobic, Bodypump, Twerking und aufs Midlifecrisis-Rennrad für Männer ab 40. Dann ruf ich Detlef Soost an, lass mich maximal motivierend anschreien und brate jeden zweiten Tag meinen frisch gebackenen Leberkäse nur noch mit Halbfettmagarine kross und lege ein Blatt Kopfsalat zwischen Leberkäse und Mayonnaise, wegen dem gesunden Chlorophyll. Zudem wäre ein überteuertes Seminar bei mehreren selbsternannten Motivationsgurus, welche mit seriöser Arbeit gescheitert und auf die Kohle von Teleshoppern wie mir angewiesen sind, entscheidend, um meine Potenziale endlich vollends ausschöpfen zu können und mit den anderen 150 naiven Teilnehmern in den exklusiven Club der Gewinner eintreten zu können. Entschuldigen Sie bitte, ich rede, ähm schreibe, im Tagtraum. Zurück in die Realität. Es ist erstaunlich, wie bescheiden und immateriell Wünsche und Freuden werden, wenn man krank ist. Leider schaffen wir es oft nicht, uns an unserem traumhaft schönen Dasein zu erfreuen, egal ob gesund oder krank. Zudem ist vieles auf unserer Welt ziemlich krank, ob nun tatsächlich oder im übertragenen moralischen Sinne. Aber wir schaffen es nicht, einander gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass wir wieder etwas harmonischer miteinander umgehen, sei es zwischenmenschlich oder mit der Schöpfung im Allgemeinen. Bei einem Baby freut man sich darüber, wenn möglichst viel vom Brei im Mund bleibt und nicht wieder auf dem Lätzchen landet. Man feiert erfolgreiches Verdauungsverhalten und durchgehenden Schlaf. Absolute Basics sind Hauptthemen und Grund zur Freude. Ähnlich wie bei mir. Das mag lustig klingen, zeigt aber wie es an die existenziellen Themen geht, trotz wachen Geistes und weitem Horizont. Uns als Menschheit gelingt es aber nur sehr begrenzt zu erkennen, wie weit wir teilweise von einem respektvollen, gesunden und nachhaltigen Miteinander entfernt sind und wie sehr es an einer angemessenen Prioritätensetzung krankt. Das Materielle, der ständige Vergleich und Bestätigung durch den Neid der anderen sind überhandnehmende Triebfedern in unserer Zeit geworden. Und nun haben wir da eine Krankheit die lebensbedrohlich ist und für die es keine Medikamente gibt, verbunden mit massiven Einschränkungen und Entbehrungen, bis hin zur Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe – kommt mir seit vier Jahren sehr bekannt vor. Esst mal ne Currywurst mit Pommes, nehmt Eure Kinder in den Arm und redet miteinander – mein Neid ist Euch sicher, de nn davon kann ich mein Restleben lang nur noch träumen. Aufgrund zahlreicher Nachfragen, hier eine von vielen Möglichkeiten, die Forschung in diesem Bereich mit Spenden zu unterstützen. Danke. https://www.als-charite.de/spenden/
von Christian Bär 8. September 2020
Vor etwas mehr als zwei Jahren ging madebyeyes.de online und kurz darauf folgten die Präsenzen bei Instagram und Facebook. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits zwei Jahre die Diagnose ALS. Mittlerweile folgen mir über 12.000 Menschen in den sozialen Netzwerken, was mich sehr freut. Vielen lieben Dank auch für die zahlreichen Zuschriften und Kommentare, die teils sehr aufwändig geschrieben sind und mich gelegentlich zu Freudentränen rühren. Bitte sehen Sie es mir nach, dass ich nur wenige Zuschriften beantworten kann. Meine Kraft und meine Zeit reichen nicht aus, um mehr zu beantworten, so gerne ich es auch täte. Der erste Beitrag 2018 war eine Bestandsaufnahme und es stand zu befürchten, dass ich zum heutigen Zeitpunkt keinen Beitrag mehr verfassen kann, weil ich bereits mit dem Fährmann über die Wupper geschippert bin. Mir wurde ein dynamischer Verlauf bescheinigt, was so viel heißt wie, dass ich vor Freude tanzen kann, sollte ich das untere Ende der durchschnittlichen Überlebenszeit ab Diagnosestellung 3 bis 5 Jahren schaffen. Am 24. August jährte sich die Diagnose zum vierten Mal. Es könnte schlechter laufen. Und das ist in der Tat so. Ich will die Krankheit und das damit verbundene Leid in keinem Fall als Lappalie einstufen. Dennoch gibt’s genug andere Krankheiten, die ebenfalls an Tragik nix vermissen lassen, und zu viele Bekannte sind bereits nicht mehr unter uns, die bei meiner Diagnosestellung vermeintlich kerngesund waren und wahrscheinlich nie im Leben damit gerechnet haben, vor mir in Himmel oder Hölle einchecken zu müssen. Wer ein Glioblastom, einen Hirntumor, sein Eigen nennen darf, braucht sich nicht um die nächste Steuererklärung zu kümmern, denn hier liegt die durchschnittliche Überlebenszeit bei wenigen Monaten und der Kram ist ebenso wie ALS, Stand heute, nicht heilbar. Mist, da fällt mir gerade brühwarm ein, dass ich noch Unterlagen für die Steuererklärung raussuchen muss. Und so hat alles seine Nachteile. Die beste Krankheit taugt eben nix. Es gibt genug Leid auf der Welt, so dass man leicht verzweifeln und in einem Meer von Tränen baden könnte, nur hilft das niemandem. Auch ist Leid nichts Exklusives, daher ist die Frage „Warum ich?“ nicht zielführend. Warum die anderen? Interessanter ist die Frage, ob wir als Gesellschaft die richtigen Prioritäten setzen. Wäre ich Max Mustermann müsste ich noch ungefähr 34 Steuerklärungen machen, zumindest mit Wohnsitz im Saarland, denn das entspricht der durchschnittlichen Lebenserwartung. In Bayern wären es statistisch zwei Steuererklärungen mehr - das Saarland hat auch seine Vorzüge. Das hört sich ziemlich viel an, wenn man es allerdings visualisiert, wird’s überschaubar.
von Christian Bär 30. Juni 2020
Eigentlich würde ich meine Energie lieber dafür verwenden, mit meiner Familie Zeit zu verbringen. Zeit ist nämlich bei uns ein knappes Gut und dessen sind wir uns bewusst. Ich komme jedoch nicht umhin, einen weiteren Artikel zum vorgesehenen Intensivpflegegesetz IPReG zu schreiben, obwohl ich in den sozialen Netzwerken eigentlich schon alles Wesentliche dazu gesagt habe. Warum dann die Mühe? Weil ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könnte, mich diesbezüglich nicht eindeutig zu positionieren und dieses Unrecht anzuprangern. Diese Zeilen dürften für einige aus den Reihen der CDU/CSU, insbesondere auch die Jüngeren unter Ihnen, schwer verständlich sein. Entschuldigen Sie bitte dieses Versäumnis. Begriffserklärung: Gewissen Ge·wis·sen - Substantiv, Neutrum [das] Ethisch begründetes Bewusstsein von Gut und Böse Eigentlich hätte ich Lust, den ganzen Entstehungsprozess dieses Gesetzes nochmal aufzuzeigen und das unerträglich arrogante Verhalten des Ministers Jens Spahn von der CDU. Allein die Interviews und Statements zu diesem Gesetzentwurf schreien zum Himmel und die Retrospektive zeigt, wie man hier agiert hat. Dies aufzuarbeiten ist selbst für meinen robusten Magen zu viel. Schon der erste Stapellauf des Referentenentwurfes hätte nach meinem Empfinden gereicht, um Jens Spahn wegen mangelnder Demut, mangelndem Respekt und fehlender Integrität die Amtseignung abzusprechen. Damit wäre er in Gesellschaft mit den Herren in meiner persönlichen „Hall of Shame im Amt“: Guttenberg, Scheuer, Maaßen und Dobrindt. Auch die Herren Rüddel, Laschet und Amthor eilen beachtlich flotten Schrittes Richtung dieser illustren Runde, in der sich jeder selbst am nächsten ist. Ich weiß, es sind nicht alle so frei von gesellschaftspolitischer Haltung und Verantwortung. Wer aber nicht im Schatten derer stehen möchte, sollte mit seinem Gewissen sein Herz in die Hand nehmen und dem Mandat die nötige Ehre erweisen. Es ist ein Privileg, diesem Land dienen zu dürfen. Man muss Werte leben, wenn man glaubhaft sein will, das ist ein Muss, wenn man solch eine Macht und Verantwortung hat. Vielleicht bin ich da auch zu altbacken. Churchill sagte einmal: „Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“. Ich schweife schon wieder aus. Scusi. Zurück zum Gesetzentwurf. Da das Geschreibsel mit den Augen äußerst anstrengend ist, beschränke ich mich somit auf das aktuelle Geschehen und trage mal zusammen. In meinem Blog finden Sie die weiteren Artikel zur Historie des Gesetzentwurfs. Noch eines vorweg: Ich sehe durchaus den Bedarf, die außerklinische Intensivpflege weiter zu professionalisieren, die Qualität zu steigern und sicherzustellen und den Spielraum für schwarze Schafe zu reduzieren. Dies wird mit diesem Gesetz jedoch nicht erreicht werden. Es ist ein verquertes Gesetz entstanden, Flickschusterei, eine Verschlechterung im Vergleich zum Status quo bei der Inklusion von Mitbürgern mit Behinderung, ein Angriff auf Grundrechte und eine Diffamierung der gesamten ambulanten Intensivpflege, unter dem Radar der Öffentlichkeit, denn dafür gäbe es keine Zustimmung. Jetzt aber zum aktuellen Geschehen. Der Gesetzentwurf ging am 27. Mai in die erste Lesung im Bundestag. Wie zu erwarten, hatte das Ganze wenig Tiefgang und die kritischen Details im Entwurf kamen nicht genügend raus, zumindest meiner Ansicht nach. In Summe kann man sagen, dass ausnahmslos alle Fraktionen gegen den Entwurf waren, sogar die SPD. An dieser Stelle meine aufrichtige Anerkennung an die SPD. Bravo. Jetzt gilt es den guten Willen in die Tat umzusetzen, liebe Genossinnen und Genossen, und sich nicht wieder von CDU/CSU glatt spülen zu lassen, Grundrechte sind keine Handelswaren. Sogar der AFD gelingt es bei diesem Gesetzentwurf eine liberalere und vernünftigere Haltung als die CDU/CSU einzunehmen. Spätestens an diesem Punkt sollte es der Union dämmern, dass hier was aus dem Ruder läuft und der Kahn Richtung rechtem Ufer läuft, mit Steuermann Jens auf der Brücke. In dieser ersten Lesung plädierte lediglich die Union für den Entwurf und warb vorbehaltlos. Die Reden von Herrn Rüddel und Herrn Iristorfer waren oberflächlich, flach und für die Abgeordneten ohne Detailkenntnis hörte sich das zustimmungswürdig an. Ich finde, man hätte es noch ergänzen können mit Sätzen wie „Wir sind doch nicht blöd. Wir lieben doch alle Menschen, alle, auch Behinderte, und wir, die gute Union, setzen uns dafür ein. Niemand hat die Absicht, Mauern zu errichten. Das neue Gesetz wäscht weißer als Weiß. Just do it and support our troops!“ Am Folgetag twittert Erwin Rüddel Folgendes: „Intensivpflege- und Reha-Gesetz (IPReG) auf gutem Weg. Endlich Wahlfreiheit [Daumen hoch] für Betroffene über den Ort der Versorgung. Mehr Qualität [Daumen hoch] in der Versorgung. Neue Lebensqualität [Daumen hoch] für Beatmungspatient durch mehr Engagement zur Entwöhnung von künstlicher Dauerbeatmung.“ Ich war im ersten Moment tief gerührt und geschüttelt, ergriffen und beeindruckt, dachte ich doch, die CDU hätte den Entwurf und ihr eigenes Verhalten reflektiert, den Entwurf angepasst und wahre Größe bewiesen. Dem war aber leider nicht so. Herr Rüddel lobpreist den aktuellen Entwurf trotz seiner unmenschlichen Regelungen. Eine völlig verklärte Darstellung des GKV-IPReG. In Herrn Rüddels Aufzählung fehlte meines Erachtens nur noch der Stopp der Klimaerwärmung ab sofort, Weltfrieden und die Speisung der Fünftausend. Die CDU/CSU und Jens Spahn haben eine seltsame Definition von Wahlfreiheit. Laut Sachverständigen droht Betroffenen mit häuslicher Intensivpflege, dass diese zukünftig monatlich 2.000 bis 6.000 Euro privat zuzahlen müssen und in Folge dessen in kürzester Zeit zu Sozialhilfeempfängern gemacht werden und dadurch ins Heim genötigt zu werden, wo diese Kosten nicht in Rechnung gestellt werden. Das Gesetz will „Fehlanreize“ beseitigen. Wenn dies für die Union kein „Fehlanreiz“ ist, was ist es dann? Man muss hier unterstellen: Absicht. In der öffentlichen Anhörung, welche nicht(!) öffentlich war, stellte Frau Westig folgende Frage an den Sachverständigen. Die Antwort habe ich angefügt. Quelle ist das offizielle Protokoll. Andere Experten äußerten sich ähnlich: Abg. Nicole Westig (FDP): Meine Frage geht an den Einzelsachverständigen Sebastian Lemme und an die BAGFW. Aufgrund der zukünftigen Leistungsbeschränkung der Krankenkassen auf die Erstattung lediglich der Leistung der medizinischen Behandlungspflege übt das IPReG mittelbar einen gewaltigen wirtschaftlichen Zwang auf die Betroffenen aus, die aktuell in ihrer Häuslichkeit versorgt werden. Teilen Sie meine Befürchtung, dass Betroffene deshalb ihre Häuslichkeit aufgeben und in eine vollstationäre Versorgung wechseln müssen? ESV Sebastian Lemme: Wir teilen Ihre Sorge. Wir sehen eine massive Verschlechterung der Leistung durch Einschränkung auf die medizinische Behandlungspflege gegenüber dem aktuellen Anspruch der Versicherten, der sich auf Behandlungspflege bezieht. […] Mit der jetzt vorgenommenen Verkürzung auf die Leistung lediglich der medizinischen Behandlungspflege sehen wir die Situation, dass durch körperbezogene Pflegemaßnahmen wir in die Situation kommen, dass Menschen, die sich in der Häuslichkeit versorgen lassen, mit massiven Eigenleistungsanteilen in einem Bereich von 2 000 bis 6 000 Euro pro Monat belastet werden könnten. Das führt dann im Ergebnis dazu, dass die freie Wahl des Versorgungsortes letztendlich unmöglich gemacht wird. Das ist eine ähnliche Situation, wie wir sie damals in vollstationären Einrichtungen erleben mussten. Deswegen fordern wir als zwingende Maßnahme in § 37c Absatz 1 Satz 3 das Wort „medizinische“ vor der Behandlungspflege zu streichen, damit die Versicherten wieder einen umfänglichen Anspruch auf Behandlungspflege haben, der sich patientenzentriert an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert und ihnen aufgrund ihrer Krankheit entsprechende, angepasste Pflegeleistung umfänglich zukommen lässt. Nun äußerten sich Vertreter aus CDU und SPD, es ändere sich nichts am Status quo, das sei lediglich eine begriffliche Anpassung. So schreibt Heike Baehrens von der SPD: „Intensivpflegebedürftige Betroffene, die sich nicht in vollstationären Pflegeeinrichtungen versorgen lassen, werden zukünftig durch das IPReG keine Leistungskürzungen erfahren und auch keine höheren Eigenleistungsanteile für die pflegerische Versorgung aufbringen müssen.“ Das ist mal ne Aussage. Und kommt er wieder, der Fluchtweg Konjunktiv. Baehrens weiter: „Sollte seitens der Krankenkassen die Neuformulierung zu Leistungskürzungen oder zu Leistungsverschiebungen zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung und Sozialer Pflegeversicherung führen, wird die SPD dies unterbinden und sofort nachsteuern.“ Heißt: Frau Baehrens hält es für möglich und will notfalls nachsteuern, wenn die ersten bereits im Heim sitzen. Kann man nur hoffen, dass die SPD demnächst nicht in der völligen politischen Bedeutungslosigkeit verschwindet, denn dann gibt’s nix zum Steuern. Oder ist das Wählerakquise durch Nötigung?! Warum belässt man es nicht bei der bisherigen Begrifflichkeit, wenn sich doch angeblich nichts ändert? Man reagiert genervt und unterstellt Betroffenen Panikmache. Sag mal Freunde, geht’s Euch zu gut? Wem, glaubt Ihr, dient Ihr und die durch Euch erlassenen Gesetze? Wenn die Betroffenen selbst opponieren, dann sollte das doch eindeutig zum Nachdenken anregen, denn eigentlich sollten diese freudig feiern. Und wenn Ihr der Meinung seid, dass unsere Befürchtungen unbegründet sind, dann erklärt doch den Sachverständigen, Betroffenen und Verbänden wie vorteilhaft das Gesetz für alle Betroffenen sein wird. Tipp: „Liebe Betroffene, wir verstehen Eure Bedenken, Sorgen und Befürchtungen. Diese sind unbegründet, denn das Gesetz ist in diesem Punkt eine Verbesserung für Sie, weil…“ – Weil? In jedem Fall ist das Verhalten der Union beängstigend, da sie für den aktuellen Entwurf werben, obwohl ihnen bewusst ist, dass der Gesetzentwurf gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt. Prof. Dr. Theresia Degener, ehemalige Vorsitzende des UN BRK-Ausschusses: „Weder mit Art. 25 UN BRK (diskriminierungsfreie allgemeine und behinderungsspezifische Gesundheitsversorgung) noch mit Art. 26 UN BRK (inklusive und selbstbestimmte Rehabilitation) noch mit Art. 19 UN BRK (Selbstbestimmt Leben im inklusiven Sozialraum) ist der Gesetzentwurf GKV-IPReG vereinbar. Die Corona-Pandemie hat zudem gezeigt, dass stationäre Wohneinrichtungen nicht nur keine Schonräume sind, sie können in Pandemiezeiten zu Todesfallen werden.“. Erwin Rüddel schreibt in einem Kommentar auf Facebook Folgendes: „Pflegebedürftige haben jederzeit das Recht zu entscheiden, wo sie gepflegt werden möchten. Aber hat die Solidargemeinschaft der Beitragszahler nicht auch das Recht zu erfahren - wenn im Einzelfall monatlich von ihr bis zu 25.000,- Euro für Pflege bereitgestellt werden -, ob die Qualität der Pflege festgesetzten guten Standards entspricht? Im Heim wird dieser Standard durch Heimaufsicht und MDK sogar kontinuierlich überwacht.“. Herr Rüddel, mussten Sie bei Ihrem letzten Satz auch so lachen wie ich? Erstens sehe ich genau dieses Recht durch IPReG attackiert und zudem wird so getan, als wäre die Heimunterbringung der Garten Eden. Dass es zahlreiche Skandale in Heimen gab, und dass es auch dort, wie überall, schwarze Schafe gibt, bleibt völlig außen vor in der Diskussion. Gibt man bei Google die Suchbegriffe „Pflege Skandal“ ein, bekommt man eine umfangreiche Auflistung von Pflegeskandalen in den letzten Jahren in ganz Deutschland, wie zum Beispiel in Augsburg, Krakow, Güstrow, Untermerzbach, Oldenburg, Delmenhorst, Krautheim, Mülheim, Sonthofen, Bonn, Hannover, Ludwigsburg. Aber auch im kleinen Saarland gab es prominente Skandale in Saarbrücken, Völklingen und Elversberg. Die Fälle sind alle aus stationären Einrichtungen, hauptsächlich Pflegeheimen. Es kam zu Misshandlungen von Schutzbefohlenen, Körperverletzung, Betrug, Verwahrlosung, Drohungen, bis hin zu mehreren Mordversuchen und Morden. Es wurden zu wenige Mitarbeiter eingesetzt und abgelaufene Medikamente ins Essen gemischt, um Bewohner ruhig zu stellen. Verletzte wurden tagelang nicht versorgt, Windeln nicht gewechselt und hygienische Standards nicht annähernd eingehalten. Die Aufsicht in den Heimen hat in den meisten Fällen völlig versagt, teilweise trotz konkreter Hinweise, oder war sogar involviert. Natürlich ist dies keine vernünftige Datenbasis, um Aussagen treffen zu können und auf der Entscheidungen gefällt werden können. Die Datenlage beim Ministerium erscheint mir allerdings keinen Deut besser zu sein. Auf alle wesentlichen Fragen von beiden Anfragen im Bundestag lautet die Antwort „Dazu liegen keine Zahlen vor“. Dennoch zeigen diese zahlreichen Beispiele, dass es auch in Heimen krasse Verfehlungen gibt, und sicherlich ist die Dunkelziffer viel höher. Und ja, auch in der ambulanten Pflege, insbesondere in der Intensivpflege, gibt es schwarze und kriminelle Schafe, Ochsen und Schweine, im Vergleich funktioniert die Aufsicht aber besser. Denn zuhause ist die Aufsicht Ehemann, Ehefrau, Sohn, Tochter, Mama oder Papa, und intrinsisch motiviert, dass es dem Angehörigen gut geht. Diese unbezahlbare Triebfeder nennt sich Liebe. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es gibt definitiv auch gute Heime und ein Großteil der Pflegerinnen und Pfleger in Heimen leisten aufopfernd bewundernswerte Arbeit, ebenso wie im ambulanten Bereich. Aber wer in seiner Argumentation solch einseitige Augenwischerei betreibt, dem muss man auch das andere wischen. Selbst wenn das Heim der Garten Eden wäre, will ich selbstbestimmt entscheiden können, ob ich dort leben möchte. Zudem ist eine stationäre Umgebung gerade aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr wesentlich gefährlicher und lebensfeindlicher, Stichwort multiresistente Keime, Corona und so weiter - insbesondere für beatmete Patienten. Ein Kernproblem sind sicherlich die Beatmungs-Wohngemeinschaften. Diese sind weder die eigene Häuslichkeit, noch unterliegen sie den Vorgaben von Heimen. Damit sind sie per se keine schlechte Betreuungsform, bieten aber anscheinend Potenzial für Abrechnungsbetrug. Nur werden alle ambulanten Wohnformen undifferenziert über einen Kamm geschoren und ins schlechte Licht gerückt. Der Großteil der ambulanten Dienste leistet einwandfreie Arbeit und eine stationäre Versorgung im Heim bietet wie schon beschrieben nicht per se eine Gewähr dagegen, menschenunwürdigen Zuständen ausgesetzt zu sein. In wie vielen ambulanten Intensivversorgungen, getrennt nach eigener Häuslichkeit und Beatmungs-WG, kam es im vergangenen Jahr zu Abrechnungsbetrug? In wie vielen Pflegeheimen kam es zum Abrechnungsbetrug? Wie viele Straftaten, die die körperliche Unversehrtheit betreffen, gab es im ambulanten und stationären Bereich? Auf diese und weitere essentielle Fragen hat die Regierung keine belastbaren Antworten. Liebe CDU, Sie lösen mit diesem Entwurf keine Probleme, sondern schaffen neue Probleme auf Kosten der Betroffenen. Die Kosten und das Personal sind die Triebfeder in diesem Gesetzentwurf und nicht das Wohl der Betroffenen. Sie formulieren in dem Entwurf klar die „Allokation“ der Pflegekräfte. Sie gehen davon aus, dass, wenn Betroffene ins Heim ziehen, die Pflegekräfte zukünftig in Heimen arbeiten. Sie gehen anscheinend davon aus, dass viele Betroffene ins Heim umziehen „wollen“, sonst wäre das keine relevante Größe, um im Gesetzentwurf begründend angeführt zu werden. Verbleiben wir kurz und spielen das durch. Wenn tatsächlich Wahlfreiheit besteht, wird aus der häuslichen Versorgung nur ein kleiner Bruchteil das Pflegeheim als bessere Option sehen. Aus den Beatmungs-WGs, wo es schlecht läuft, werden vielleicht einige Betroffene mehr ins Heim wechseln. Allerdings kommt dort eine Fachkraft auf vier Intensivpatienten im Dienst. Die Personalflut Richtung Pflegeheim dürfte dennoch gegen Null laufen. Warum? Weil alle ambulanten Pflegekräfte aufgrund der Zustände in Pflegeheimen, nicht mehr in der stationären Versorgung arbeiten wollen, diese können das mit ihrem Gewissen (Begriffserklärung siehe oben) nicht vereinbaren. Diese Fachkräfte gehen eher als Erntehelfer nach Bulgarien und kehren der Pflege den Rücken. Wahrscheinlich bezahlt man sie dort auch besser und bringt ihnen die nötige Wertschätzung entgegen. Alle(!) Beauftragten der Länder für Menschen mit Behinderungen fordern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages dazu auf, dem Gesetzesentwurf in der derzeitigen Fassung nicht zuzustimmen und geben eine gemeinsame Erklärung ab. H olger Kiesel, Sprecher der Konferenz der Beauftragten aus Bund und Länder für Menschen mit Behinderungen: "[...] Jeder und jede Abgeordnete, die diesem Entwurf zustimmen, stimmen für einen Gesetzesentwurf, der internationalem Recht widerspricht." Sollte das in Kraft treten, können Krankenkassen bislang häuslich betreute Intensivpatienten auf das Heim verweisen, wenn diese ihre Versorgung nicht sicherstellen können. Das ist eine wesentliche Verschlechterung - daran ändert auch der Zusatz, dass nachgebessert werden kann, nichts. Der Sicherstellungsauftrag muss weiter bei den Krankenkassen liegen. Zudem soll der Kostenträger entscheiden, wo die Reise hingeht – völlig inakzeptabel. Es gibt keine neutrale Instanz und selbst der MDK befürwortet die Vorgehensweise der Beurteilung in seiner Stellungnahme nicht. Wie gesagt, ich sehe dringenden Handlungsbedarf. Eigentlich lässt sich dieser auf die Beatmungs-WGs eingrenzen. Ich würde mir wünschen, grundlegend die außerklinische Intensivpflege zu professionalisieren im Sinne aller Betroffenen, unabhängig vom Ort der Unterbringung. Mehrheitsfähige Konzepte, die zukunftsweisend sind und den Menschen im Mittelpunkt haben und nicht die Kosten. Zudem gehört die Kommerzialisierung der Pflegeheime gestoppt, die Zustände in Heimen wesentlich verbessert und die Missstände dort umgehend abgestellt. Wir brauchen Bedingungen, die den Pflegeberuf interessant machen und aufwerten, so dass Perspektiven geschaffen werden und auch schulisch höher qualifizierte darin ihre Berufung finden. Die bestehende außerklinische Intensivpflege, um die uns das Ausland beneidet, gehört verbessert und ausgebaut und nicht zerschlagen. Das gibt’s nicht umsonst. Schon klar. Was darf ein lebenswertes Leben kosten? Ist künstliche Beatmung ein Showstopper für Selbstbestimmung und ist Intensivpflege der Break-Even-Point? Gibt’s Abwrackprämie für Familien, wenn sie ihren Behinderten entsorgen? Es wäre an der Zeit, dass Sie sich an Werten orientieren, nicht an Bilanzsummen von Unternehmen, Herr Spahn, mit 40 Jahren (Alles Gute nachträglich), ist der perfekte Zeitpunkt, Dinge zu überdenken und Weichen zu stellen. Behinderte gehören mitten in die Gesellschaft und nicht abgeschoben. Alles andere wäre Wasser auf die Mühlen der ewig Gestrigen. Jens Spahn gibt vor Missbrauch und Betrug verhindern zu wollen. Bin ich dabei. Aber nicht, indem man Betroffene ins Heim nötigt. Was kommt als nächstes? Kasernieren wir alle Ausländer in Deutschland zur Reduzierung von Gewalt gegen Ausländer und wer frei leben möchte, muss monatlich 2.000 Euro zahlen? Alles natürlich aus reiner christlicher Nächstenliebe. Die wirklichen Beweggründe von CDU/CSU und insbesondere von Jens Spahn bleiben im Verborgenen und öffentlich wird der Gesetzentwurf gefeiert und verklärt dargestellt. Kritik perlt völlig an Herrn Spahn ab, die überhebliche Herangehensweise ist unerträglich und man fragt sich, wem die IPREG Befürworter aus der Union dienen. Es entsteht der Eindruck, dass sie und ihre Erfüllungsgehilfen GKV-Spitzenverband und der MDK versuchen, das Gesetz im Eiltempo durchzupeitschen, die schwerkranken Betroffenen und die Öffentlichkeit über den Tisch zu ziehen und die entstehende Reibungshitze als Nestwärme verkaufen zu wollen. Diesen Donnerstag geht das Gesetz in die zweite und dritte Lesung im Bundestag. Danach ist es beschlossene Sache. Weitere Informationen finden Sie hier: Petition: www.change.org/intensivpflege Selbsthilfeverband: www.shvfg.de
von Christian Bär 11. April 2020
Mir geht’s gut und ich hoffe, das bleibt auch so. Gründe zum Jammern ob meiner Gesundheit und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für unser Leben gäbe es reichlich, auch ohne erschwerende Umstände, die uns von außen als zusätzliche, aber vermeidbare Lasten aufgebürdet werden. Ich versuche, es ohne Klagen zu ertragen. Wen sollte ich für meine Erkrankung auch anklagen? Jetzt kommt noch eine weitere Herausforderung in Form einer Pandemie, welche weitreichende Maßnahmen im Gepäck hat, und auch damit komme ich klar. Ist nicht schön, halt auch nicht ungefährlich, aber hopp, es ist wie es ist. Auch meine Familie, meine Freunde und meine Mitarbeiter machen eine gute Figur, agieren verantwortungsvoll, trotzen den Begleitumständen, Klatschen regelmäßig und sind nicht dem seelisch-moralischen Untergang geweiht, der einem droht, wenn man in einem der reichsten Länder der Welt mit highend Smartphone, Playstation, Netflix, vielleicht sogar Büchern und Unmengen Klopapier gebeten wird, doch mehr Zeit zu Hause mit der Familie zu verbringen. Der ein oder andere wird denken: „Netflix okay, aber ‚Familie‘, da hört der Spaß auf!“. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wenn ich etwas oberflächlich und mit dem Tiefgang eines Surfbretts über die Lage der Nation rutsche. Natürlich sind die individuelle Situation und das Empfinden jedes Einzelnen unterschiedlich, und auch die Härten, insbesondere die wirtschaftlichen, aber auch die sozialen, wie zum Beispiel der Anstieg der häuslichen Gewalt oder die Vereinsamung älterer Alleinlebender, sind mir durchaus bewusst und sollen keinesfalls hier verharmlost werden. Zudem ist es nur meine flapsige Sicht, die man nicht teilen muss, und kein Mantra oder gar ein wissenschaftlich belegtes Patentrezept für was auch immer. Ich versuche nun mehrere Tage einen neuen Artikel zu schreiben, bin aber teilweise so genervt von diversen Dingen, die täglich aufs Neue reinschwappen, dass es mir schwer fällt sachlich zu bleiben. Zudem sind meine Gedanken so vielfältig und die Überlegungen für mich nicht hinreichend abgeschlossen, dass es mir unmöglich erscheint, diese verkürzt darzustellen. Andere tuen sich da weniger schwer. Mit wenig Tiefgang, aber schön inbrünstig, röhren derzeit gefühlt ziemlich viele mitteilungsbedürftige Mitmenschen insbesondere durchs Internet, in diversen Formaten und auf unterschiedlichen Plattformen, und teilen dort ihre Sicht der Dinge bezüglich der Pandemie mit. Häufig ist es ungeschickt, halbwahr, pseudowissenschaftlich anmutend, verschwörungstheoretisch, hetzend, jammernd, besserwisserisch, dumm oder peinlich, auch Kombinationen sind möglich. Da schreibt ein Arzt einem anderen Arzt einen Brief als Reaktion auf sein veröffentlichtes Video, in dem er vorschlägt, alle vermeintlich an Covid-19-Infektion Verstorbenen zu obduzieren, um zu prüfen, ob sie denn tatsächlich daran verstorben sind. Sonst gibt’s keine Erkenntnis im Video, lediglich diese Annahme, dass dies sinnvoll wäre. Nun schreibt, wie schon erwähnt, ein anderer Arzt ihm, dass er seine Sicht teilt, was den Angeschriebenen motiviert ein weiteres Video zu veröffentlichen. In diesem Video zeigt er sich begeistert, findet den Brief „Hammer“ und man hat das Gefühl, als hätte er den Jahrhundertskandal aufgedeckt. Mit Aussagen wie „hat man Angst die wahren Todesursachen […] zu erfahren?“, „könnte es sein, dass die Zahlen der Corona-Toten dann dahinschmelzen wie Schnee in der Frühlingssonne?“ und „Ich bitte die Bevölkerung das Schreiben auf sich wirken zu lassen.“ wird fleißig angeheizt im Video. Und weil zwei Ärzte drin vorkommen (von denen einer nicht genannt werden möchte), muss da ja was dran sein, und so kommt Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker. Mal unter uns: hätte ein Menschenrechtler ein Video veröffentlicht, worin er behauptet, dass der IS (Islamischer Staat) vermutlich ein ganz herzlicher weltoffener Gastgeber sei und ein zweiter Menschenrechtler wäre ähnlicher Ansicht gewesen, dann hätten Sie ja auch nicht, trotz Reisewarnung, direkt im Einsterne plus Hotel in der IS-Hochburg Raqqa zwei Wochen all inclusive gebucht und sich mit Bikini und Martini ans ausgetrocknete Poolbecken gelegt. Man sollte immer in Betracht ziehen, dass auch zweimal Falsch kein Richtig ergibt. Es mag vielleicht auch fachlich stimmen, nur ist es eine stark verkürzte Sicht. Zudem würde es nicht reichen, nur die vermeintlich am Virus Verstorbenen zu untersuchen, sondern alle Verstorbenen des Landes. Vielleicht würde sich die Sterberate sogar eher erhöhen als reduzieren. Aber darum geht’s mir nicht. Es geht darum, dass ein komplexer Zusammenhang angemessen dargestellt werden sollte und, auch wenn unbeabsichtigt, keine kruden Theorien befeuern sollte. Zu häufig melden sich nun irgendwelche Leute zu Wort, denen, vermutlich zurecht, bis jetzt keiner nennenswert zugehört hat. Und auch ein Studium oder eine Promotion schützen vor Irrtum, Dummheit, Geltungsbedürftigkeit oder geistiger Brandstiftung nicht, siehe Björn Höcke. Und wenn Professor Bhakdi sich in seinem Video staatstragend die Brille in Zeitlupe in seinem selbstdarstellerischen Video von der Nase zieht und „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ sagt und aus seinem offenen Brief an Frau Dr. Merkel vorliest, rollen sich mir wahlweise die Fußnägel zusammen, ich muss herzlich lachen oder ich schlafe spontan ein. Er spielt auf der üblichen Schlaumeierklaviatur, will auch mal was sagen und baut Deiche erst, wenn das Wasser erwiesenermaßen an der Baumkrone kitzelt. Schwimmenlernen mit Professor Bhakdi. Veröffentlicht werden diese Videos von Kanälen, die auch Herrn Höcke dufte finden und die von Manipulation durch die Mainstream-Medien faseln. Beängstigend und erstaunlich, wie schnell sich solche Videos verbreiten, sorglos geteilt werden und dann als Steigbügel für Verschwörungstheorien dienen. Auch die Frage nach der Wertigkeit von Leben finde ich erschreckend. Wer will es sich anmaßen, darüber zu entscheiden, wie wertig Leben ist? Wenn nur ein Einziger an dem Virus gestorben wäre, wären dann die getroffenen Maßnahmen gerechtfertigt, wenn die Chance bestünde, wenigstens ein Leben zu retten oder braucht es eine gewisse Menge an drohenden Todesopfern? Wo würde die Grenze liegen, vielleicht bei anzunehmenden 100.000 Toten und sind dann 95.000 zu wenig? Ein Leben zu opfern ist aber verhältnismäßig, dafür machen wir nichts dergleichen und belasten die Wirtschaft nicht, oder? Wie wäre es, wenn es Ihr Kind ist, das stirbt? „Geh mein Kind, das musst du verstehen, deine Rettung wäre echt teuer, das wäre unverhältnismäßig. Sei nicht traurig, Ich passe auch auf Hasi auf, wir sehen uns im Himmel“. Kaum zu ertragen der Gedanke. Aber im Prinzip läuft das heute schon so. Die pharmazeutische Industrie forscht nach Medikamenten, die Gewinne bringen und nicht für zum Beispiel seltene Erkrankungen, welche zwar häufig grausam für die Betroffenen sind, aber eben keine Gewinne versprechen. Sie werden auf dem Altar unserer konsum- und gewinnorientierten egoistischen Gesellschaft geopfert, um die göttlichen Aktionäre gütig zu stimmen. Ebenso wie Jens Spahn die Pflegebedürftigen ins Heim zwingt und die Mär von „Es ist nur zu Ihrem besten und ich habe Sie gerettet“ erzählt. Man opfert Grundrechte und die Schwachen, weil man Kosten sparen will. Alle schauen weg beziehungsweise bekommen es nicht mit, solange sie selbst nicht betroffen sind. Ab auf den Altar. Aussagen, dass die Patienten alt waren oder eine Vorerkrankung hatten und der Infekt nur der Tropfen war, der das Fass des Lebens zum Überlaufen brachte, finde ich erschreckend. So berichtet welt.de „Der renommierte Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel hält die Angst vor Corona für übertrieben. Mit seinem Team obduziert er die Toten in Hamburg, und er stellt fest: Das Virus sei in diesen Fällen nur der letzte Tropfen gewesen.“. Der Artikel wird nicht besser, wenn man ihn ganz liest, die Tonalität ist zum Schuhe werfen. Der ursprüngliche Artikel erschien in der Hamburger Morgenpost und ist ebenfalls ebenerdig. Erstens weiß zum Glück keiner, wann das Fass voll ist, und zum anderen: selbst wenn Sie ohne Covid-Erkrankung nur einen Tag länger gelebt hätten, rechtfertigt das keine Unterlassung lebensrettender Maßnahme und Ihres Schutzes. Es gibt keinen Preis für Leben, auch nicht für Stunden. Wenn Herr Püschel morgen bei einem Zusammenprall mit einem Auto tödlich verunglückt, ist das Auto dann der allerletzte Tropfen, der sein Fass zum Überlaufen bringt? Was macht das Leben eines vermeintlich Gesunden objektiv gesehen lebenswerter als das eines Kranken? Nichts! Ich bin todkrank und benötige Intensivpflege, trotzdem, oh Wunder, lebe ich gerne und gerne möglichst lange, und damit bin ich nicht allein. Das Problem in diesem Fall ist allerdings nicht Her Püschel und seine aus ethischer Sicht mehr als unglückliche Aussage, sondern die verkürzte reißerische Darstellung der Morgenpost und das Aufwärmen durch welt.de, denn Herr Püschel hält die getroffenen Maßnahmen durchaus für sinnvoll, was in der Berichterstattung nicht erwähnt wird. Natürlich muss Kritik erlaubt sein und auch die freie Meinungsäußerung sowie die Pressefreiheit sind höchste Güter. Gerade der Diskurs bietet Mehrwertpotenzial, wenn er in der Sache und lösungsorientiert ist und wenn jeder Debattierende seine Sicht mit Demut hervorbringt, weil er ein mögliches Scheitern seiner Darbringungen im direkten Diskurs, dem Gesamtkontext oder über die Zeit für zulässig erachtet und einräumt, dass das Scheitern der eigenen Argumentation gar als wünschenswert erachtet wird, sollten sich andere oder neue Sichten als dem Thema dienlicher oder der Wahrheit näher erweisen. Wer so verfährt, dient vornehmlich der Sache und verdient Respekt und Anerkennung, bekommt diese jedoch selten. Die Selbstherrlichen, Lauten, Dominaten und Manipulativen setzen sich häufig durch, meistens um vorrangig ihre eigenen Ziele zu erreichen. Damit diese argumentativ nicht scheitern, bestimmen sie häufig die Themen, passen das Thema des Diskurses ihrem Argumentationsgesang an, welcher gut geprobt öffentlich zum Besten gegeben wird. Die Antworten auf die Fragen scheinen häufig sogar schlüssig, nur ist die Fragestellung nicht sachdienlich. Manchmal ist auch kein böser Wille dabei, eher sogar das Bestreben Gutes zu tun. In diesem Fall wäre man gut beraten vor- und umsichtiger zu formulieren, um Raum für zugewonnene Erkenntnis zu lassen. Zum Beispiel nervt die schier unendliche Diskussion um das Tragen von einem Etwas vor Mund und Nase. Politiker ziehen einen Teil der Wahrheit heran, um zu argumentieren, warum die Benutzung nicht angezeigt ist. Üblicherweise wird korrekt erklärt, dass das Tragen eines Mundschutzes ohne besondere Schutzklasse zwar Tröpfchen beim Träger zurückhält, aber Aerosole mit dem Sars-CoV-2-Erreger durchlässt und sie somit nicht zum Schutze vor Infektion durch Atemluft geeignet ist. Und das war`s, damit wird versucht zu sagen „Bringt nix!“, was aber wohl in Gänze nicht stimmt. Dann wird noch gern gesagt, es gäbe dazu auch noch keine eindeutigen Studien. Nur weil es keine Studien gibt, heißt es jedoch nicht, dass es in der Summe keinen Effekt hätte. Zudem wird jetzt vermutlich keinem durch das freiwillige Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) die Nase abfallen. Ich persönlich gehe in der Annahme, dass eine solche Empfehlung versucht wird zu vermeiden, weil man befürchtet erklären zu müssen, dass überhaupt keine Masken verfügbar sind. Und natürlich würde es die Übertragung hemmen, würde ein Großteil der Bevölkerung im öffentlichen Raum MNS tragen, gerade weil man andere infizieren kann, bevor sich bei einem selbst Symptome zeigen. Ob das letztendlich Sinn macht, relevant ist und verhältnismäßig steht auf einem anderen Blatt. Bereits seit Jahren ist bekannt, dass es Engpässe bei einer Pandemie geben wird. Das RKI wies bereits 2012 explizit auf den möglichen Mangel an Schutzausrüstung hin. Warum hat man hier nicht Vorsorge getroffen? Man ist sicherlich geneigt zu entgegnen, dass es nicht vorhersehbar war und die Eintrittswahrscheinlichkeit zu gering. Dann frage ich mich allerdings, warum wir ab jetzt diesbezüglich Krisenvorsorge bei Schutzausrüstung betreiben wollen, dann wäre es ja auch früher gegangen. Jens Spahn zum Beispiel turnt jetzt mit Presse in einem Verteilzentrum herum und inszeniert sich als Macher. Hätte er mal früher gemacht! Aber da war es nicht populär... Warum schloss man nicht mit innereuropäischen Firmen Verträge, dass diese sich verpflichten, in Krisenfällen binnen zwei Wochen eine nennenswerte zu definierende Menge an Masken zu produzieren und hält nationale Reserven für zwei Wochen vorrätig. Vielleicht ist mein Vorschlag auch nicht so einfach umsetzbar und es gibt bessere. Aber bis dato nichts desgleichen zu haben und sogar medizinisches Personal klatschend ins Messer laufen zu lassen, ist ohne Worte. Sich dazu noch als Schutzpatron der Pflegekräfte und des medizinischen Personals zu inszenieren ist beachtlich peinlich, hat er doch wesentlich dazu beigetragen, dass die Personalsituation im Bereich der Pflege und im medizinischen Bereich im internationalen Vergleich beschämend schlecht ist, die Substanz schwindet, der Kostendruck immens ist, Grundrechte in Frage gestellt werden und die Industrie hofiert wird und unreguliert treiben kann was sie will. Auch bei Medikamenten und Antibiotika sind wir völlig abhängig von China und Indien. Mein Pulsoximeter schlägt Alarm, ich muss das Thema Jens Spahn damit für heute abschließen. Zu meiner Freude spiegeln die genannten Beispiele nicht das Gros der Menschen und Verantwortungsträger wider und es ist eben leicht, besserwisserisch zu agieren, wenn man keine Verantwortung trägt und keinen Handlungsdruck hat. Ich bin zwar der Meinung, dass gerade diese Wahrnehmung von Verantwortung unter großem Druck zu den wichtigsten Aufgaben von Amtsinhabern gehört, dennoch sollte das nicht unsere Dankbarkeit schmälern, wird diese Aufgabe vorbildlich wahrgenommen, was auf den allergrößten Teil sicherlich zutrifft, ungeachtet aller politischer Couleur und den damit verbundenen politischen Differenzen. Danke. Die Lockerung der Maßnahmen ist in Sicht und ich hoffe sehr, dass die letzten Wochen genutzt wurden und es ein überlegtes strategisches Vorgehen gibt, welches ein Ziel verfolgt, und wir nicht einfach lockern und mal schauen was passiert. Ich hoffe, wir nutzen auch die Chance das Gute zu bewahren, das Miteinander mehr zu schätzen und auch technischer Innovation offen zu begegnen. Darin liegen riesige Möglichkeiten für uns und wir sollten diese nutzen, anstatt sie zu verteufeln. Wir sollten unseren Gewählten mehr Vertrauen schenken als den Konzernen und nicht bei der freiwilligen Nutzung einer App Staatskontrolle vermuten, gleichzeitig aber Konzernen wie Google, Apple, Amazon, Facebook und wie sie alle heißen, unser halbes Leben mitteilen und sie in der Hosentasche herumtragen, auf den Nachttisch legen, mit ihnen Sport machen, bezahlen, navigieren, fotografieren, chatten, telefonieren, bestellen, das Haus steuern und überwachen, den Rasen mähen, die Wohnung staubsaugen und gleichzeitig kartografieren, den Puls messen, Kalorien zählen und das Gewicht messen. Die Lockerung wird einen Preis haben, Leid verursachen und Leben fordern. Dennoch können wir uns nicht in einem Kokon mit Internetverbindung vor dem Tod schützen und uns nur virtuell entfalten. Wobei man bereits vor der Pandemie das Gefühl hatte, dass manch einer bereits in einem Kokon lebt und die virtuelle Realität Priorität genießt. Fuhr man mittags an Bushaltestellen vorbei, rauchte erfreulicher Weise keines der wartenden Schulkinder mehr, wohl aber weil das Verlangen nach der Nutzung des überdimensional großen Smartphones, für das man beide Hände braucht, größer war. Da unterhielt sich auch niemand und ich ertappte mich tatsächlich bei der Frage, ob nun das Smartphone gefährlicher als die Zigarette ist und ob wir einen Aufdruck auf den Handys brauchen mit abschreckenden Bildern von vereinsamten Menschen und Warnhinweisen wie „Handys enthalten Kobalt, dafür müssen Menschen in Afrika sterben“, „Handynutzung kann schnell süchtig machen: Fangen Sie gar nicht erst an!“, „Smartphonenutzung fügt Ihnen und Ihrem sozialen Umfeld schwere Schäden zu“ oder „Rauchen kann Ihnen dabei helfen, die Handynutzung zu reduzieren“. Ich drifte ab, pardon. Wir als Gesellschaft bräuchten dringend einen Diskurs, wie wir miteinander leben wollen, wie wir wirtschaften wollen und zu welchem Preis. Wir müssen uns ehrlich und offen überlegen, welchen Wert Leben für uns hat, und zwar jegliches Leben, nicht nur unser eigenes. Europa könnte ein echt cooler Schuppen sein, ist aber derzeit weit entfernt davon. Wenig innovativ, nicht solidarisch, veraltet, unökologisch, wehrlos, unentschlossen und populistisch. Einige nehmen nur und sind rückwärtsgewandte Antieuropäer, wir lassen es zu und hofieren sie. Es ist Aufgabe von Parteien, mutige zukunftsorientierte Konzepte zu entwickeln und diese offen und ehrlich zu diskutieren, zu einen, nicht zu trennen, Anreize zu schaffen und bessere Argumente zuzulassen. So wie es die letzten Jahrzehnte gelaufen ist, darf es nicht weitergehen, sonst fahren wir den Karren an die Wand. Wir brauchen erstrebenswerte Visionen und zielgerichtetes konkludentes selbstloses Handeln und keine schmutzigen Deals, die einen Sommer halten, die Welt nicht besser machen und den Despoten dieser Welt Oberwasser verschaffen. Wenn das, was wir machen, gut wird, folgen andere unserem Weg. Die Richtung erfordert parteiübergreifenden Konsens, denn in einer Legislaturperiode wird das nicht zu schaffen sein. Vor den Erfolg hat der liebe Gott den Schweiß gesetzt. Irgendwer muss anfangen, warum nicht wir.
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