Sicherheitshinweis: Wenn möglich, halten Sie ein Glas Nutella und einen Löffel griffbereit, Nutoka geht natürlich theoretisch auch.
Schon wieder Herbst, erstaunlich wie die Zeit vergeht. Das Schöne daran ist: Ich lebe. Dies kann nicht jeder von sich behaupten, die Toten dürften sich besonders schwer mit dieser Aussage tun. Und da sind leider in letzter Zeit einige von uns gegangen. Viele hatten ALS, waren aber von meinem Eindruck her, noch relativ fit, wenn man das so nennen darf. Mein Umgang mit solchen Themen ist eher „Eiche rustikal“. Wenn das nicht jedermanns Sache ist, verstehe ich das und bitte um Entschuldigung, es liegt mir fern, Schicksale gewichten zu wollen oder zu verletzen. Es mag daran liegen, dass ich meinen Zustand nicht per se als schlimm empfinde, sondern für mich als Standard definiere, so gut das eben geht. Sehr komplexes Thema, wie ich finde, vielleicht später dazu ein paar Worte mehr. Nun bin ich schon nach 60 Wörtern völlig vom Thema abgekommen, im Vergleich, ein „Vater unser“ hat 63. Gott sei Dank bin ich kein Priester geworden, ich wäre selbst beim „Vater unser“ abgeschweift und müsste bei der heiligen Kommunion Lunchpakete mit rausgeben, damit mir beim mehrstündigen Überziehen keiner unterzuckert. Zurück zu den Toten.
Viele liebe Menschen mit und ohne ALS sind unverhofft gegangen. Um es mit den Worten von Michaela Klingen zu sagen „Glaub die Diagnose, nicht die Prognose“. Als ich meine Diagnose erhielt, wussten einige, losgelöst von ALS, nicht, dass sie vor mir gehen müssen, und das war auch bei objektiver Betrachtung nicht zu vermuten. Das zeigt, dass niemand davor gefeit ist, morgen schon die Augen final zu schließen und dass es noch viele andere Krankheiten gibt, die für zügiges Ableben sorgen. Man soll nicht glauben, ein Exklusivrecht auf elende Last zu haben.
Ich erfreue mich meines irdischen Daseins und bin unterm Strich ein glücklicher Kerl. Dies liegt hauptsächlich daran, dass ich bei meiner Frau und meinem Sohn leben darf, umgeben von Menschen, die mich lieben, dass ich frei über mein Leben bestimmen kann, man mich respektiert und würdevoll behandelt. Bei all den schönen Momenten soll aber kein falsches Bild entstehen. Unser Glück ist harte Arbeit unter Bedingungen, wie ich sie keinem wünsche. ALS frisst sich bis in den letzten Winkel des Alltags der Betroffenen.
Es wird beschwerlicher. Die Last der ALS nimmt stetig zu. Dennoch gibt es sie, die glücklichen und schönen Momente. Sie könnten durchaus häufiger sein, hätten wir nicht mit erschwerten Bedingungen durch äußere Einflüsse zu kämpfen. Mit der Bürde ALS müssen wir leben, dagegen ist leider noch kein Kraut gewachsen. Es kostet unendlich viel Kraft, die Stellung zu halten, ständig eine Ausweichstellung zu beziehen, ein ständiges Rückzugsgefecht zu führen, mit dem Wissen, dass hinter uns der Abgrund wartet. Wir versuchen, möglichst viel Zeit in den Kampfpausen zu nutzen, um die Aussicht zu genießen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Normalität zu leben, glücklich zu sein.
Mein gesundheitlicher Zustand hat sich in den letzten Monaten weiter verschlechtert. Ich gebe zu, dass das die gesamten letzten drei Jahre der Fall war. Der Abbau in den letzten drei Monaten war nicht schneller, nur geht wieder ein markanter Abschnitt zu Ende und ein neuer beginnt. Mit dem Muskelverlust ist das grob dargestellt wie folgt: Sie können gehen aber immer schlechter, aber sie können gehen, ohne Hilfsmittel. Irgendwann ist dieser Abschnitt zu Ende und die Erdanziehung zu groß. Im neuen Abschnitt benutzen Sie einen Rollator. Das geht täglich schlechter, aber es geht, bis auch hier die Erdanziehung übermächtig wird. Abschnitt beendet, Rollstuhl. Flankiert wird das von tausend weiteren Tätigkeiten, die zuerst beschwerlich werden und dann unmöglich, wie zum Beispiel Besteck benutzen, Tür aufschließen, Waschen, Autofahren, Zähneputzen, Treppengehen, Kochen, Schreiben, Singen, Kratzen, Sprechen, Kauen, Schlucken und Augen öffnen.
Meine stärkere linke Hand ist nun so schwach geworden, dass ich Probleme habe, den Rollstuhl zu fahren. Daher kommt demnächst eine Sondersteuerung, die hoch sensibel reagiert, so dass ich mit der Restkraft den Rollstuhl steuern kann. Zudem benötige ich eine Begleitsteuerung, damit mich jemand fahren kann, sollte ich gerade unpässlich sein. Wie lange dieser Abschnitt dauert, ist unbekannt. Danach bleibt in meinem Fall nur noch eine Augensteuerung mit einer speziellen Brille. Diese durfte ich bereits erproben. Aus Sicht des Informatikers ist das Ding eigentlich kein Hexenwerk, aus meiner Sicht als Betroffener ist es der absolute Knaller. Dennoch ist eine manuelle Steuerung immer direkter und einfacher, weshalb jetzt erstmal der Joystick zum Einsatz kommt.
Eine weitere Verschlechterung betrifft die Atmung. Ich habe nun gelegentlich das Bedürfnis, auch tagsüber künstlich beatmet zu werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Ich benötige ständig geschultes und examiniertes Personal, und mein Rollstuhl wird durch die zusätzlichen Anbauten für Beatmung und Steuerung bald noch sperriger. Dieser Umstand in Kombination mit der schwinden Kraft in der Steuerhand und der Begleitsteuerung, machen die Nutzung unseres derzeitigen Autos auf kurze Sicht unmöglich, da bei diesem Modell der Rollstuhl im Auto rangiert werden muss. Das wird zu eng zum Wenden im Auto. Zukünftig benötigen wir ein Auto, in dem ich im Kofferraum mitfahren kann. Diese Karren sind rar gesät und kein Schnäppchen.
Die ALS lässt uns keine Verschnaufpause. Selbst das extra umgebaute Bad kommt nun mit dem Pflegeduschrollstuhl an seine räumlichen Grenzen. Da ich nicht mehr gerade sitzen kann und der Kopf hängt, benötige ich nun einen kantelbaren Duschstuhl mit Kopfhalter, damit ich quasi im liegen Duschen kann. Das Teil ist riesig und optisch emotional eher das Modell „Frankensteins Monster“. In Zukunft müssen die Pflegekräfte eine Fortbildung im russischen Staatszirkus als Schlangenfrau machen, um sich zwischen den ganzen Gerätschaften im Bad bewegen zu können. Und das ist eine der bestbesuchten Lokationen im Haus. Ich verbringe täglich zwei Stunden im Bad für Grundpflege und dann wurde ich noch nicht geschminkt. Auch der Umbau des Büros zu meinem Pflegezimmer wird konkret und aufwändiger als gedacht. Wir machen nur das Nötigste, was trotzdem eine Renovierung und viel Arbeit bedeutet.
Dies alles stand so ja irgendwie in der Programmvorschau. Was ich nicht gedacht hätte, ist, dass mich die äußeren Einflüsse dermaßen belasten. Betrachte ich mir meine letzten Blogartikel, beschäftigen diese sich weniger mit mir und meiner Sicht auf die Welt sondern mit Themen, die unser eh schon sportliches Familienleben bis an die Schmerzgrenze strapazieren. Seit der Verleihung des Grimme Online Award wird monatlich eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Die Streitereien mit der Krankenkasse, das unterirdische Verhalten des MDK, die EMA (Arzneimittelbehörde der Europäischen Union) und der Rückzug des Zulassungsverfahrens von Edaravone, und last but not least der Gesetzesentwurf aus dem CDU-geführten Hause des Herrn Minister Jens Spahn. Dieser regt mich dermaßen auf, dass es sich negativ auf meine Gesundheit auswirkt. Laut dem Gesetzentwurf zur Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, kurz „Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz – RISG“, müssen ich und alle anderen Patienten mit einem besonders hohen Pflegebedarf vollstationär ins Heim. Eigentlich wollte ich mich in diesem Artikel nicht darüber aufregen, aber jetzt wo wir schon mal beim Thema sind, komme ich um eine kurze Predigt nicht umhin.
Es ist mehr als schäbig, was Herr Spahn mit diesem Gesetzentwurf zu erreichen versucht. Sollten Ihnen die Hintergründe noch unbekannt sein, können Sie diese in meinem Blogartikel „Gute Heimreise“ nachlesen. Unter dem Deckmantel, die Qualität verbessern zu wollen, werden rein finanzielle Ziele verfolgt. Dies versucht man natürlich zu verneinen, man wolle doch nur das Beste für die Patientinnen und Patienten. Ich kaufe auch dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) nicht ab, dass man aufgrund mangelnden Wissens hier danebengegriffen hat, und nun interessiert zuhört, damit man optimieren kann.
Meiner Meinung nach wusste man genau, was man tat. Das war vorsätzlich, mit Wissen und Wollen. Es ging zu keiner Zeit vorrangig um das Patientenwohl, sondern um das Befriedigen finanzieller Interessen anderer. Man hat sich weder die Mühe gemacht, die Situation zu analysieren, noch ist man bestrebt, Probleme zu lösen. Und zu sagen, dass das doch nur ein Entwurf wäre, dass es keinen Grund zur Aufregung gäbe, schließlich berate man ja noch, ist völlig inakzeptabel und moralisch höchst verwerflich. In diesem Entwurf werden essenzielle Rechte torpediert, das ist kein Kavaliersdelikt.
Kann man in einen Entwurf denn alles schreiben, nur weil es noch beraten wird? Was steht als nächstes in Entwürfen der CDU? Vielleicht „Gesetz zur Wiedereinführung von Standgerichten zur Verbesserung der Servicequalität für den Bürger durch Verkürzung der Wartezeiten und zur Amtshilfe der Justiz - kurz SSAHJG“? Natürlich beurteilt der Leitende des Standgerichtes auch immer angemessen die individuellen Umstände und kann in Ausnahmefällen bei Unzumutbarkeit ein ordentliches Gerichtsverfahren gestatten. Alles nicht ja so schlimm, würde ja erst noch beraten. Bitte nicht aufregen.
Verkehrte Welt. Jetzt wo draußen fleißig und besorgt an die Tür des Ministeriums geklopft wird, wird drinnen Kreide gefressen und man gibt sich verständnisvoll. Neue Taktik. Man hört sich alle Bedenken an, wird den Entwurf vermutlich abändern, aber trotzdem am Zielbild in Form von finanziellen Ergebnissen festhalten. Ich vermute, man wird Rahmenbedingungen schaffen, die zum selben Ergebnis führen. Zum Beispiel könnte man "im Sinne des Patienten" die Anforderungen an Personal und Pflegedienst im ambulanten Bereich derart hochsetzen, dass sich weder ausreichend Personal finden lässt noch ein wirtschaftliches Anbieten der 1zu1-Versorgung möglich sein wird. Dann darf der Patient zwar frei wählen, aber wenn es keinen Pflegedienst gibt, da wird die Wahl wohl eng. Bitte beachten, liebes Ministerium, so mancher hat sich an solch einem Vorhaben auch schon verschluckt!
Das man das Problem nicht lösen will, erkennt man daran, dass man überhaupt keine Detailinformationen hat. Corinna Rüffer (B90/Die Grünen) ist Mitglied des Deutschen Bundestages und hat eine parlamentarische Anfrage an das Ministerium von Herrn Spahn gestellt. Sie hatte sich danach erkundigt, in wie vielen Fällen Betreiber sogenannter Beatmungs-WGs gegen gesetzliche Vorschriften oder Vereinbarungen mit den Krankenkassen verstoßen hätten. Das Ministerium nannte in seiner Antwort aber keinerlei Zahlen, sondern verwies unter anderem auf eine Reihe von Ermittlungsverfahren. Es interessiert nicht, man will ins Heim verschieben und sich nicht mit Problemlösungen beschäftigen.
Es wird so getan, als wäre die Heimunterbringung der Garten Eden. Dass es zahlreiche Skandale in Heimen gab, und dass es auch dort, wie überall, schwarze Schafe gibt, bleibt völlig außen vor in der Diskussion. Gibt man bei Google die Suchbegriffe „Pflege Skandal“ ein, bekommt man eine umfangreiche Auflistung von Pflegeskandalen in den letzten Jahren in ganz Deutschland, wie zum Beispiel in Augsburg, Krakow, Güstrow, Untermerzbach, Oldenburg, Delmenhorst, Krautheim, Mülheim, Sonthofen, Bonn, Hannover, Ludwigsburg. Aber auch im kleinen Saarland gab es prominente Skandale in Saarbrücken, Völklingen und Elversberg. Die Fälle sind alle aus stationären Einrichtungen, hauptsächlich Pflegeheimen. Es kam zu Misshandlungen von Schutzbefohlenen, Körperverletzung, Betrug, Verwahrlosung, Drohungen, bis hin zu mehreren Mordversuchen und Morden. Es wurden zu wenige Mitarbeiter eingesetzt und abgelaufene Medikamente ins Essen gemischt, um Bewohner ruhig zu stellen. Verletzte wurden tagelang nicht versorgt, Windeln nicht gewechselt, und hygienische Standards nicht annähernd eingehalten. Die Aufsicht in den Heimen hat in den meisten Fällen völlig versagt, teilweise trotz konkreter Hinweise, oder war sogar involviert. Interessanter Weise waren keine Suchergebnisse von Skandalen in der ambulanten Pflege dabei. Natürlich ist dies keine vernünftige Datenbasis, um Aussagen treffen zu können und auf der Entscheidungen gefällt werden können. Die Datenlage beim Ministerium erscheint mir allerdings keinen Deut besser zu sein. Dennoch zeigen diese zahlreichen Beispiele, dass es auch in Heimen krasse Verfehlungen gibt, und sicherlich ist die Dunkelziffer viel höher. Und ja, auch in der ambulanten Pflege, insbesondere in der Intensivpflege, gibt es schwarze und kriminelle Schafe, Ochsen und Schweine, im Vergleich funktioniert die Aufsicht aber besser. Denn zuhause ist die Aufsicht Ehemann, Ehefrau, Sohn, Tochter, Mama oder Papa, und intrinsisch motiviert, dass es dem Angehörigen gut geht. Diese unbezahlbare Triebfeder nennt sich Liebe.
Immer mehr internationale Finanzinvestoren drängen in die Pflege. Nicht aus Liebe zum Menschen, sondern um Rendite zu machen. Das ist ein riesiger Markt, immer mehr Pflegeheime werden verkauft. Um mal ein Gefühl zu bekommen: Dezember 2017 wurde die Alloheim-Gruppe laut Stuttgarter Zeitung vom 16. Februar für 1,1 Milliarden Euro von dem Finanzinvestor Carlyle Group an Nordic Capital verkauft. Laut Handelsblatt kaufte der französische Investor Primonial ein Portfolio des Pflegedienstleisters Charleston aus 20 Pflegeheimen mit knapp 2000 Betten in sechs Bundesländern. Rund die Hälfte der Altenpflegedienste in Deutschland sind in privater Hand. Rolex, Porsche, Haus, Gold, Ländereien, alles Statusobjekte von gestern, der Profi zählt seinen Reichtum anhand der Anzahl von Pflegebetten. Früher gab es Quartett mit Militärfahrzeugen, Zügen, Rennautos, zukünftig spielt man Pflegeheim-Quartett und macht einen Stich mit der Anzahl von Pflegebetten, der Rendite der Einrichtung, dem Personalschlüssel oder der Anzahl Pflegeskandale. Der Staat zieht sich aus diesem Bereich zurück und überlässt somit den privaten Anbietern das Feld. Bei Polizei, Feuerwehr, Schulen und Kindergärten wäre das undenkbar. Noch. Auch hier gibt’s ja bereits erste Entwicklungen in diese Richtung. Die Investoren interessiert es einen feuchten Kehricht, wie es in den Häusern läuft, wie die Zustände im Heim sind. Sie sind viel zu weit weg und an zweistelliger Rendite interessiert, Verantwortung wird abgeschoben. Dann bleiben die Windeln an, bis sie auslaufen, und das Personal wird bis über die Schmerzgrenze reduziert, dann stimmt auch die Rendite. Wer den Mund aufmacht, bekommt Druck oder fliegt direkt. Und wo der Trend am Anfang des Jahres noch in Richtung ambulanter Versorgung ging, ist bei den Investoren bestimmt Goldgräberstimmung ausgebrochen, als der Gesetzesentwurf veröffentlicht wurde, das “Ab-ins-Heim-Gesetz“.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es gibt definitiv auch gute Heime und ein Großteil der Pflegerinnen und Pfleger in Heimen leisten aufopfernd bewundernswerte Arbeit, ebenso wie im ambulanten Bereich. Aber wer in seiner Argumentation solch einseitige Augenwischerei betreibt, dem muss man auch das andere wischen. Nichts wird dadurch besser, alle sehen verschwommen und einige wenige können in Ruhe Geschäfte machen. Selbst wenn das Heim der Garten Eden wäre, will ich selbstbestimmt entscheiden können, ob ich dort leben möchte. Zudem ist eine stationäre Umgebung gerade aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr wesentlich gefährlicher und lebensfeindlicher, Stichwort multiresistente Keime, insbesondere für beatmete Patienten.
Apropos ein sehr interessantes Thema. Weltweit haben alle großen Pharmaunternehmen die Forschung im Bereich Antibiotika komplett eingestellt, zu wenig Gewinn. Soziale Verantwortung und Gewissen – Fehlanzeige. Ähnlich verhält sich das mit der Entwicklung neuer Medikamente für seltene Erkrankungen, wie zum Beispiel ALS. Für die Pharmaindustrie sind seltene Erkrankungen uninteressant, alles was keine Rendite bringt ist uninteressant. Lieber wird ein neues Krebsmedikament entwickelt, das keinen Mehrwert gegenüber den vielen anderen Präparaten auf dem Markt hat, wenn sich eine gute Rendite abzeichnet. Wo ist staatliche Forschung, warum wird nicht reagiert und warum bestimmt die Industrie in dieser Maßlosigkeit? Auch hierzu gibt’s keine gescheiten Antworten von Herrn Spahn und seinem Ministerium. Jesus Maria, ich drifte völlig ab.
Können Sie noch oder vielleicht lieber eine kurze Pause? Sie sind so stumm…
[Pause]
Alle wieder da? Zurück zum Gesetzesentwurf des Herrn Spahn.
Natürlich bin ich froh, dass man gesprächsbereit ist. Aber ich will zu bedenken geben, dass, wenn mich ein Mensch meiner Freiheit berauben will und ich darum bitten muss, das nicht zu tun, dies in höchstem Maße die Würde des Menschen verletzt. Insbesondere bei dem Habitus des Ministers in dieser Sache und dem Auftreten des von ihm verantworteten Ministerium.
Die von dem Entwurf ebenfalls konkret betroffene Familie Wirth hat sich die Mühe gemacht und sich schriftlich an Jens Spahn gewandt. Sie haben umfangreich ihre persönliche Situation geschildert und ihre Ängste bezüglich des Gesetzesentwurfs. Kerstin Wirth ist 28 Jahre jung, seit 2012 an ALS erkrankt, seit 2013 beatmet, künstlich ernährt und komplett bewegungsunfähig. Lediglich ihren rechten Mundwinkel kann sie noch etwas bewegen und damit kommunizieren. Sie wird seit Juli 2013 24/7 zu Hause gepflegt und hat bereits früh in ihrer Patientenverfügung festgelegt, dass für sie nur die Pflege zu Hause in Frage kommt. Sie möchte auf keinen Fall in eine Pflege-WG oder ein Heim. Sollte dies nötig werden, also eine Einweisung in ein Heim oder eine WG, hat sie verfügt, die Beatmungsmaschine abschalten zu lassen. Das ist ihr gutes Recht.
Die Antwort vom Ministerium war weniger umfangreich und nach zwei einleitenden Sätzen und der Information, dass man im Auftrag von Herrn Spahn antworte, kommt man zur Sache:
„[…] Lassen Sie mich daher an dieser Stelle Folgendes klarstellen:
Vom Gesetzentwurf nicht betroffen sind Pflegebedürftige, die keine 24-Stunden-Pflege durch eine Pflegefachkraft benötigen. Damit fallen Patientinnen und Patienten, die ausschließlich von Familienangehörigen betreut werden oder eine 24-Stunden-Assistenzkraft haben, nicht unter die Definition. Auch Patientinnen und Patienten, die mit einer 24-Stunden-Intensivbetreuung durch eine Pflegefachkraft am sozialen Leben teilnehmen, können weiterhin Anspruch auf Pflege zu Hause haben. Das wird im Einzelfall geprüft werden. Bei dieser Prüfung haben die Krankenkassen, die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände der Patientinnen und Patienten angemessen zu berücksichtigen. Ohne dass ich Ihren konkreten Fall beurteilen kann gehe ich daher davon aus, dass sich für Sie durch die geplanten Neuregelungen nichts ändern wird.
Ich hoffe, dass ich zu einem besseren Verständnis beitragen konnte. Der weitere Verlauf des Gesetzgebungsvorhabens bleibt nun zunächst abzuwarten. […]“
Danach kommen noch zwei Sätze Tralala, gefolgt von MfG und Signatur. Respekt. Eine absolute Frechheit vom BMG. Das übliche Schema, was ich ja bereits aufgezeigt hatte, nun sogar schriftlich. Man zählt zuerst mal auf, für wen der Gesetzentwurf nicht gelten soll. Dies steht aber so auch nicht im Entwurf, was aber auch egal ist, da auch dieses Verständnis würdelos ist. Was hat das Ministerium geritten, solch ein despektierliches, empathieloses und grottenschlecht argumentiertes Schreiben zu verfassen? Zum Fremdschämen dieses Niveau.
Am besten ist die fachmännische Einschätzung gelungen: „Ohne dass ich Ihren konkreten Fall beurteilen kann gehe ich daher davon aus, dass sich für Sie durch die geplanten Neuregelungen nichts ändern wird.“. Liebes Ministerium, Ihr solltet Euch wenigstens die Mühe machen, die Mail von Familie Wirth zu lesen. Oder hapert es beim Verständnis? Wo genau? Beim Verstehen der Mail von Familie Wirth oder beim Verständnis des eigenen Gesetzentwurfs?
Ich versuche mal zu helfen. Familie Wirth hat Euch doch geschrieben, dass Kerstin rund um die Uhr von examinierten Pflegekräften betreut wird - nennt sich Intensivpflege. Nun zu Euren Aussagen:
Vom Gesetzentwurf nicht betroffen sind laut Ihrer „Definition“ Pflegebedürftige,
- die keine 24-Stunden-Pflege durch eine Pflegefachkraft benötigen,
- die ausschließlich von Familienangehörigen betreut werden,
- die eine 24-Stunden-Assistenzkraft haben.
Freunde, ich bitte um Verstand. Kerstin schrieb Sie hat 24/7 INTENSIVPFLEGE. Nix trifft zu! Zudem gibt es in Ihrem Gesetzentwurf keine solche „Definition“. Im Gesetzentwurf auf den Seiten 6 und 21 steht, dass „Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an Behandlungspflege“ nur noch Anspruch auf Intensivpflege in vollstationären Einrichtungen oder Intensivpflege-Wohneinheiten haben, nicht mehr in der eigenen Häuslichkeit, und Ausnahmen nur gemacht werden, wenn dies nicht zumutbar ist, beispielsweise weil keine geeignete Einrichtung zur Verfügung steht. Fertig.
Zurück zum Antwortschreiben. Nächstes Sahnestück:
- Auch Patientinnen und Patienten, die mit einer 24-Stunden-Intensivbetreuung durch eine Pflegefachkraft am sozialen Leben teilnehmen, können weiterhin Anspruch auf Pflege zu Hause haben. Das wird im Einzelfall geprüft werden. Bei dieser Prüfung haben die Krankenkassen, die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände der Patientinnen und Patienten angemessen zu berücksichtigen.
Kerstin kann noch mit dem Mundwinkel zucken, die letzte Möglichkeit der Kommunikation, sie ist ansonsten vollständig bewegungsunfähig. Wie definieren Sie, liebes BMG, Teilnahme am sozialen Leben? Dies soll dann im Einzelfall unter angemessener Berücksichtigung der Umstände geprüft werden. Wie müssen die Umstände denn sein? Wie definieren Sie „angemessen“? Definitionen sind irgendwie nicht Ihr Ding.
Wenn das Gesetz so ne feine Sache wäre, dann könnte man doch schreiben "Herzlichen Glückwunsch, Sie sind vom Gesetz betroffen. Das ganze BMG freut sich wie irre für Sie und Jens hat sogar feuchte Augen vor Freude. Das ist das Beste, was Ihnen passieren konnte, welch ein Jubeltag. Im Auftrag des Ministers laden wir Sie zur Feier des Tages auf ein Eis ein (2 kleine Kugeln oder 1 Softeis für die Magensonde)". Stattdessen schreibt man eine respektlose Mail, die jegliches Taktgefühl vermissen lässt und zudem als eine Beleidigung der Intelligenz des Empfängers empfunden werden kann.
Interessanter Weise muss jeder, der Herrn Spahn öffentlich fragt, auch nicht ins Heim, das gilt immer nur für die anderen. Aber ist das Gesetz erst da, interessiert die Kasse sich nicht mehr für Zusagen. Der Entwurf wird in meinen Augen völlig verharmlost. Nur öffentlicher Druck kann hier was bewirken. Sachargumente finden derzeit, zumindest bei Herrn Spahn, meiner Meinung nach wenig Gehör. Würde es um die Sache gehen, sähe der Entwurf anders aus.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind schutzbefohlener Schüler und Ihr Lehrer, der Sie schützen sollte und dem Ihr Wohlergehen seine Berufung sein sollte, verpasst Ihnen mitten auf dem Pausenhof eine schallende Ohrfeige und hebt drohend erneut die Hand. Sie sind geschockt und weinen laut, sie schreien das erfahrene Unrecht laut raus, in der Stimme Panik vor dem was Ihnen droht. Die anderen Schüler werden aufmerksam, schauen hin, die sechsjährigen ziehen ihr iPhone X aus der 501 und posten es bei Facebook, und das Mädel von der Schülerzeitung spitzt den Griffel. Daraufhin wird der Lehrer etwas nervös und sagt, das wäre alles nur zu Ihrem Besten, die Reaktionen wären völlige Panikmache und mit der Hand wolle er Schatten spenden, Selbstbestimmung wäre, wenn ich die andere Wange hinhalte. Aber er sei ja gesprächsbereit und Sie dürfen nun sagen was Sie stört, dann überlegt er es sich nochmal ob er sie verwamst. Wie gnädig und eine äußerst vertrauensvolle Basis für weitere Gespräche. So ungefähr fühlt sich das an. Ich bin wahrlich ein friedliebender Kerl, harmoniebedürftig, nicht nachtragend und versuche Konflikte zu vermeiden, aber ich halte nicht die Wange hin, dann läuft das eben anders.
Nun schließe ich für heute die Akte RISG. Falls Sie es bis hierhin geschafft haben: Danke. Ich hoffe Sie sind nicht unterzuckert, in Zukunft wird es kürzer, ich bemühe mich zumindest. Die Predigt war lang und ich hoffe unsere Gebete werden erhört. Ich wünsche es mir so sehr für alle Betroffenen und ihre Familien, ich glaube an unser Wunder. Die vielfältigen Belastungen sind äußerst herausfordernd. Hinzu kommt, dass ich auch nicht immer ein Geschenk bin, dafür brauchte es aber keine ALS. Die Nerven sind durch den ganzen Mist allerdings dünner geworden, die Lunte kürzer. Früher konnte ich viel über körperliche Arbeit und Sport regulieren, heute fühle ich mich zwar täglich, als hätte ich einen Marathon absolviert, aber die Endorphine vom Zieleinlauf fehlen. Der Kopf muss viel regulieren. Mitunter hat es sich bewährt, emotional nicht auf jeder Hochzeit zu tanzen. „Eiche rustikal“ eben. Ein Titel von einem Buch hat mich diesbezüglich sehr inspiriert: „Am Arsch vorbei geht auch ein Weg“. Jetzt schweife ich schon wieder aus, trotz guter Vorsätze. Er war stets bemüht.
Eigentlich wollte ich auch noch ein wenig über unseren Last Minute Urlaub im September in Holland erzählen, von den besonderen Herausforderungen, die dieser Urlaub mit sich brachte und den gewonnenen An- und Einsichten. Ein anderes Mal, sonst wird’s womöglich noch ein Buch. Heute ist nicht alle Tage, ich komm‘ wieder, keine Frage. Das ist zumindest der Plan. Amen.