[ m a d e b y e y e s ]
Wenn mir jemand vor drei Jahren prophezeit hätte, wie mein heutiger Zustand ist, ich hätte mir es nicht vorstellen können. Vor nicht ganz drei Jahren kam unser Filius zur Welt und fast alles war perfekt. Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein, denn wir hatten auch Kummer durch erkrankte Familienmitglieder, aber es war in einem Maße wie man es von einem mit Leben gefüllten Rucksack an Last erwarten kann. Beruflich war ich wie immer am Rotieren, ich mochte es stressig. Das Zuhause war renoviert, das Kinderzimmer bereit zum Einzug für den Mietnomaden. Wir waren bis zu diesem Zeitpunkt gut im Treiben. Viel am Arbeiten, viel im Krankenhaus, Schwangerschaft und Hochzeit. Von meiner Erkrankung hatten wir bis dahin nichts geahnt. Es mag auch daran gelegen haben, dass keine Zeit war, um die Anzeichen dafür zu sehen, dass da was im Argen ist. Natürlich war ich oft erschöpft und hatte nicht mehr so viel Power, aber wen sollte das wundern bei dem Pensum. Wenn der Transformator brummt, wundert sich auch keiner. Aber es wäre sicherlich ein Punkt gewesen, mal die Bauteile prüfen zu lassen, ob sie auf Dauer für so viele Schwingungen taugen.
Dann kam unser Sohn zur Welt und beim Verlassen des Krankenhauses trug ich ihn mit seiner Babyschale zum Auto, und da war es das erste Mal: dieses ungute Gefühl von Kraftlosigkeit im rechten Bizeps. Ein Jahr später, also vor ziemlich genau zwei Jahren, lag ich im Universitätsklinikum und bekam die Diagnose „Verdacht auf Motoneuronerkrankung ALS“. Ich stellte mich im Krankenhaus vor mit Muskelzuckungen, leichter Schwäche im rechten Arm und im rechten Bein, vermehrtem Speichelfluss und leichten Sprachproblemen. Ansonsten in einem guten Allgemeinzustand, vielleicht ein wenig pummelig, 96 Kilogramm, aber ich bitte um Nachsicht, wir waren schwanger.
Wenn ich die Symptome hier beschreibe, liest es sich vielleicht plakativer, offensichtlicher und beeindruckender, als es für mich oder ungeschulte Außenstehende war. Wer mich nicht genau kannte, konnte auf den ersten und auch nicht auf den zweiten Blick feststellen, dass ich krank sein sollte. Ich hatte keine wirklich gravierenden Einschränkungen im Alltag.
Die Nervenklinik des Universitätsklinikums ist mir nicht in romantischer Erinnerung geblieben. Ein ziemlich alter Schuppen mit wenig Charme. Für mich ein Ort von Kummer. Dazu das trostlose Ambiente, die besorgten Blicke der Ärzte, die wie trübe Wolken ein Unwetter ankündigen. Da bekommt man Gottesnähe.
Es gab durchaus auch Situationen, die zwar beschissen, aber mit Humor leichter zu nehmen waren. So erinnere ich mich an eine Begebenheit, wo ein älterer liebenswerter Herr, bestimmt ein Großvater oder wahrscheinlich Urgroßvater, gerade mit zwei Physiotherapeutinnen auf dem Flur unterwegs war. Er übte das Gehen am Rollator und war sehr unsicher und gebrechlich unterwegs. Seinen Namen habe ich vergessen, seinen Sinn für Humor nicht. Ich will ihm hier mal den Namen Müller geben. Es kam zur Konversation mit allen Sinnen, der ich akustisch nicht ausweichen konnte. Die Physiotherapeutin hinter ihm fragte „Herr Müller, kann es denn sein, dass Sie in die Hose gemacht haben?“, stoisches Schweigen von Herrn Müller. Darauf sagte die Therapeutin zu ihm, sie werfe mal einen Blick in die Hose und siehe da, auf ihre Nase war Verlass. Darauf fragte sie Herrn Müller, ob er denn nicht merken würde, wann er zur Toilette müsse. Er beantwortete die Frage knapp mit „Doch“, während er weiter trippelnd mit dem Rollator seine Bahnen zog und sie fragte ihn leicht entrüstet, warum er denn nichts gesagt habe, man hätte doch die Toilette ansteuern können. Nach einer perfekt gewählten Pause holte Opa Müller zum finalen Schlag aus und sagte „Es sollte ein Pfürzchen werden“.
Nachdem wir den ersten Schock überwunden hatten und die Tränen zum Heulen aufgebraucht waren, galt es sich zu sammeln. Eigene Position bestimmen, Plan machen, Ausführung. Das Wichtigste ist, das Leben nicht zu vergessen. Ich zitiere „Eines Tages müssen wir alle sterben, Snoopy“, richtig, „und an allen anderen Tagen nicht“, richtig und klug. Einfacher gesagt als getan, aber Selbstmitleid ist auch keine Lösung. Die wahre Tragik ist nicht mein vermeintlich zu früher Tod und wie es mir bis dahin geht, sondern das, was an Trauer und Schmerz damit verbunden ist. Die unausgesprochenen Worte, die fehlende Umarmung, die gemeinsamen Glücksmomente und all das was Erinnerung an Papa ausmacht, wofür, gemessen an dem was zu erwarten war, doch die Zeit fehlt. Was bleibt ist die Erinnerung. Jede Freude ist oder basiert auf Erinnerung. An was wird sich mein Sohn erinnern, wer war sein Papa, wie kann ich ihn auf dem Weg zu einem guten Menschen begleiten? Durchhalten ist angesagt und jeden Tag mit Liebe füllen. Für den kleinen Mann ist alles unendlich. Das Leben, die Geduld seiner Eltern, die Verfügbarkeit von Gummibärchen. Irgendwann wird der Tag kommen, dass er feststellen wird, dass nichts unendlich ist und einiges nicht ersetzbar. Wir üben das jetzt mit Gummibärchen und füllen ihn bis dahin mit bedingungsloser Liebe ab.
Das Leben ist nicht planbar. Wenn wir heute planen, fahren wir auf Sicht. Da wir die Entwicklung der Krankheit nicht abschätzen können, planen wir kurzfristig. Seit den ersten Symptomen sind ständig Veränderungen im Gang. Es bleibt kaum Zeit, sich an einen Zustand zu gewöhnen. Es gibt regelmäßig Featureupdates. Funktionserweiterungen, die keiner braucht. ALS hat da einiges an unnötigen Neuerungen anzubieten. Ich nenne hier mal nur die mich betreffenden: Da wäre das ständige Muskelzucken. Mittlerweile überall. Nervt anfänglich, kann man aber irgendwann ignorieren. Muskelzucken gab es bei mir schon früh. Krämpfe auch. Gerne in den Waden und Oberschenkeln. Wahlweise auch gerne irgendwo sonst. Und auch hier ist es eher die Genießernummer, denn die Intensität sucht ihres gleichen. Ich beschränke mich in solchen Situationen mittlerweile auf ein leises und anerkennendes Stöhnen. Würde ich stattdessen laut meinen Unmut kundtun, wäre die Pein nicht weniger, aber es würde meine Umgebung mehr belasten. Auch bezaubernd sind vermehrter Speichelfluss und Spastiken. Äußerst förderlich für das Aussehen. Was aber von wirklich besonderer Güte war, war das Update mit dem pathologischen Lachen. Das bedeutet im Grundsatz eine unangemessene emotionale Reaktion. Ich lache, obwohl ich nicht lachen will. Skurriler Mist. Zum Glück ist es bei mir so, dass es meistens immerhin als passende Emotion, allerdings jedoch überzogen auftritt. In Situationen, in denen ich früher nur (innerlich) geschmunzelt habe, muss ich heute Lachen wie Papa Wutz. Dies kann zu durchaus unangenehmen Situationen führen. Aber auch in hilflosen Situationen muss ich ab und an lachen, was sehr nervt. Denn während ich lache, geht sonst nix mehr.
Natürlich kann man diese Nebenkriegsschauplätze an Symptomen mit Medikamenten beschießen, was ich im Fall der Spastik und der Krämpfe durch die Einnahme von Muskelrelaxantien mache. Alle anderen Symptome werden für gewöhnlich mit Psychopharmaka beschossen. Die Nebenwirkungen dieser Medikamente machen zum Beispiel einen trockenen Mund. Ich für mich habe bis dato deren Einsatz abgelehnt, da ich fürchte, ich handle mir weitere Probleme ein. Es brauchte eine Weile, bis ich mich nicht mehr allzu sehr über mein eigenes Erscheinungsbild und dessen Wirkung auf meine Umgebung geärgert habe. Ich bin wie ich bin. Und der allgemeinen Norm zu genügen, ist ein Zwang, der sich nur im Kopf abspielt.
Völlig unerwähnt blieb bis dato mein Muskelschwund. Ich habe in zwei Jahren über 20 Kilogramm abgenommen, halte aber seit ein paar Monaten mein Gewicht. Meine Arme sind Ärmchen geworden. Dies führt dazu, dass ich ständig auf fremde Hilfe angewiesen bin. Toilette, Waschen, Anziehen, Trinken, Essen, Kratzen, nix geht mehr alleine. Nix. Stimmt nicht. Fast nix. Wenn meine Hand an die Rollstuhlsteuerung gelegt wird, kann ich selbstbestimmt von A nach B fahren. Auch andere Hilfsmittel erlauben mir, die Verluste etwas auszugleichen. Treppenlifter, vollautomatische Toilette, Sprachcomputer, Augensteuerung für den normalen Computer. Aber es ist nur ein Bruchteil vom alten Tanzbär geblieben, körperlich. Bis vor zwei Jahren hatten meine Frau und ich ein Ritual. Wir tanzten jeden Sonntagmorgen zusammen in der Küche. Ohne dass ich ein Bier getrunken hatte und egal wo der Haussegen rumhing. Ich kann mich nicht mehr an den letzten Tanz erinnern. Es muss ein Klammerblues gewesen sein, mehr war nicht mehr drin. Ich glaube wir beide wussten, dass es endlich ist, nicht jedoch, dass es der letzte gemeinsame Tanz unseres Lebens sein wird. Das bringt uns kein Hilfsmittel zurück, nur ein Wunder.
Ganz aktuell ist der Sprachcomputer ein wichtiges
Hilfsmittel geworden, da die Sprache weg ist. Meine Stimme heißt jetzt Klaus. …
Christians Stimme war schöner und Christian konnte besser singen.