[ m a d e b y e y e s ]
Leider verschlechtert sich mein körperlicher Zustand stetig und in einer beängstigenden Geschwindigkeit. Wenn ich Ihnen bisher über den Status quo berichtete, dann tat ich das knapp, in Stichworten wie beatmet, gefüttert, gewaschen. Doch was bedeuten diese schnell gelesenen Worte für meinen Alltag? Was macht es mit mir? Keine Angst, wir werfen uns jetzt keine Bälle zu und rufen dabei unsere Namen. Ich will Sie gerne ein Stück weit in meinen Alltag einladen und zeigen, wie man abseits der Normvorstellung von einem glücklichen Leben glücklich sein kann, aber auch zeigen, welche Mühen mein Alltag mit sich bringt.
Wie sehr die ALS mein Leben und das meiner Umgebung verändert, konnte ich mir bei der Diagnosestellung vor zwei Jahren noch nicht vorstellen, vielleicht auch gut so. Der Vollständigkeit halber muss ich aber auch sagen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, trotz ALS und schwersten Einschränkungen ein weitestgehend glückliches Leben zu führen. Ich bin nur einer unter vielen. Viele Menschen sind früher oder später auf Hilfe angewiesen, die weit in den persönlichen Bereich geht.
Für alle die ungern vorab erfahren wollen, was sie auf sie zukommen kann, sollten sie pflegebedürftig werden, sei jetzt Obacht geboten. Ich hätte einen Vorschlag: Wir machen es wie bei der Fernsehsendung „Was bin ich?“. „Welches Schweinderl hätten S‘ denn gern?“. Kennen Sie die noch? Bevor am Anfang des Rätsels die Lösung eingeblendet wurde, schlug Robert Lemke mit einem Schlegel auf einen Gong (für die jüngeren Leser: das gibt’s bei YouTube). Wir machen das hier auch so: Ich betätige den Gong und wer mag, kann die Augen schließen oder sich in der Zeit etwas zu essen holen. Am Ende der Ausführungen gonge ich dann wieder.
Vor etwas mehr als zwei Jahren war mein Alltag noch völlig anders als heute. Ich war immer im Treiben, liebte es stressig und war immer festen, flotten Schrittes auf der Arbeit unterwegs. Ich war kommunikations- und diskussionsfreudig, konnte telefonieren ohne Telefon, war ein Erklärbär. An dieser Stelle möchte ich mich für das ein oder andere blutige Ohr bei der damaligen Zuhörerschaft entschuldigen. Beruflich bedingt verbrachte ich viel Zeit auf der Autobahn. Etwa die Hälfte der Woche war ich am Firmenstandort Ludwigshafen, was täglich ungefähr drei Stunden Fahrtzeit bedeutete, die Standzeit im Stau kam noch oben drauf. Ich mochte es. Die morgendlichen Fahrten waren mit Diensttelefonaten gefüllt, wohingegen die späten Heimfahrten meist mir gehörten. Es waren tolle Fahrten. Ich freute mich über den produktiven Tag, rollte mit Tempomat entspannt nach Hause und hörte laut Musik, zu der ich gefühlt besser (und vor allem lauter) sang als das Original. „Georgia on my mind“ und „Raider in the rain“, gesungen von Thomas Quasthoff und Christian Bär. Oder „Trinity: Titoli“ wurde laut intoniert – Ich war auch eine tonsichere Pfeife. Die Zeit im Auto war meine Zeit, sie gehörte nur mir. Zuhause ging es dann in strammer Taktung weiter. Viele Dinge wurden parallel bearbeitet, gerne bis in die Nacht, die Aufgabenliste war stets gut gefüllt. Ich mag es eben, wenn es rund geht, frei nach dem Motto „Macht nix, wenn es schnell geht“. Natürlich gäbe es noch viel mehr vom alten Bär zu erzählen, aber das Format des Blogs ist dafür zu begrenzt. Dennoch haben wir wesentliche Punkte beisammen, an denen ich Ihnen aufzeigen will, wie sich ein Leben in kürzester Zeit ändern kann.
Gooong
Mein heutiger Alltag differiert fast vollständig zu früher. Früher benötigte ich etwa 40 Minuten, um mich nach dem Aufstehen komplett einsatzfähig zu machen. Inklusive Duschen, Rasieren, Krawatte, Anzug, Emails prüfen und einem Kaffee, und da brach keine Hektik aus. Heute sieht das etwas anders aus.
Nach dem Aufwachen habe ich für gewöhnlich Krämpfe und Spastiken. Deshalb benötige ich umgehend Medikamente, Muskelrelaxanzien, um diese Lage kontrollierbar zu machen. Die Einnahme der Tabletten im Bett ist schwierig. Ich muss mit dem Pflegebett in eine möglichst aufrechte Sitzposition gefahren werden, damit ich mich nicht verschlucke. Auch das Schlucken selbst fällt schwer, so kurz nach dem Wachwerden. Damit ich kommunizieren kann, hängt ein Sprachcomputer über meinem Bett, es braucht aber, bis die Augen fit genug sind, um ihn zu bedienen. Bis dahin verständige ich mich nur durch Blicke und Lidschlag. Langsam zu und auf heißt „Ja“, keine Reaktion oder lange geschlossen „Nein“. Intelligente Fragen werden vorausgesetzt, ich bitte um Verstand.
Nachdem die Tabletten Wirkung zeigen, kann es beschwingt losgehen. Ich werde in den Rollstuhl transferiert, dann in den Treppenlift umgesetzt, ins Erdgeschoss gefahren, in den elektrischen Rollstuhl umgesetzt und ab ins Bad. Das alles ist mit Pausen verbunden und laute Umgebungsgeräusche sind zu vermeiden. Meine Mitarbeit erfordert von mir hohe Konzentration. Wobei meine Mitarbeit der eines mit Kartoffeln gefüllten Jutesacks ähnelt. Ich versuche beim Transfer aus Höflichkeit der Pflegekraft nicht auf die Schulter zu sabbern, immerhin.
Dann folgen Toilettenbesuch und Bärenwäsche. Toilette ist ein Thema für sich. Ich erspare Ihnen Details. Aber ich benötige einen speziellen Dusch- und Toilettenrollstuhl, der über die Toilette gefahren wird und mich seitlich hält, sonst würde ich einfach von der Schüssel kippen. Dies bedeutet einen nicht zu unterschätzenden Zeitaufwand für Toilettengänge und eine intelligente Planung bei der Nahrungsaufnahme, damit das Timing zum Tagesablauf passt.
Der gesamte Ablauf im Bad ist ziemlich genau orchestriert. Routinierte Abläufe schaffen Sicherheit, denn bei diesen Prozeduren bin ich ohne Möglichkeit mich zu äußern und kann maximal Ja-Nein-Fragen mit den Augen beantworten. Lassen Sie sich doch mal von einem Freund die Zähne putzen, ohne dabei zu interagieren. Das wird auch für Ihren Freund schwierig. Es braucht gemeinsame Übung. Hinzu kommt, dass ich mich gerne verschlucke, den Mund nicht richtig öffnen kann und aus Reflex und wegen der Spastiken gerne auf die Zahnbürste beiße und verkrampfe. Es braucht Geduld und vor allem keine Hektik. Ich kürze an dieser Stelle die Pflegeprozedur ab. Aber eines noch: Es ist ein massiver Eingriff in meine Privat- und Intimsphäre. Vom Prinzip läuft das so mit Pflegepersonal: „Hallo, mein Name ist Müller“ (Meier, Schmitt, Knochenhauer, Meuchl, Möhrenschläger, und so weiter), Klamotten runter und ab unter die Dusche. Früher war man vorher Tanzen oder wenigstens ins Kino. Sobald man einen Pflegegrad hat, beschränkt sich das Vorspiel auf „Guten Tag, mein Name ist…“. Ich habe mich daran gewöhnt, aber es ändert nichts an dem Umstand, dass es hier persönlich wird und es unter die Gürtellinie geht.
Nach dem Bad gibt’s Klamotten und Tabletten. Jede Tablette gibt’s einzeln mit Löffel und Fruchtmousse, damit ich sie überhaupt schlucken kann. Dann ein Getränk mit Strohhalm und Frühstück. Natürlich muss alles angereicht und gefüttert werden. Essen und Trinken geht nur langsam und in Ruhe, zudem bedarf es einer gewissen Sitzposition und einer ruhigen Hand desjenigen, der mich füttert. Ist meine Sitzposition falsch oder konzentriere ich mich nicht ausreichend beim Schlucken, läuft das Getränk aus der Nase oder ich verschlucke mich, was durchaus zu lebensbedrohlichen Situationen führen kann, da die Kraft zum Abhusten fehlt. Auch hier kürze ich ab. Bis ich einsatzfähig bin, muss im Schnitt mit zwei Stunden geplant werden. Bis ich abends im Bett liege und an der Beatmungsmaske hänge, vergeht auch geraume Zeit.
Der Tag ist stets geplant, ich benötige ständige Hilfe beziehungsweise Beobachtung. Ich bin allein gänzlich handlungsunfähig, lediglich der Sprachcomputer lässt mich produktiv sein. Es kommt allerdings des Öfteren vor, dass das System hängen bleibt und nicht mehr auf meine Augen reagiert. Es bedarf dann eines manuellen Eingriffs. Ein sehr hilfloses Gefühl, bis Hilfe kommt. Ebenso ist es im Bett. Ich muss gedreht werden, die Decke muss gerichtet werden und vor allem die Beatmung erfordert eine ständige Anwesenheit einer weiteren Person im Haus, die an meinem Wohlergehen aktives Interesse hat und im Notfall weiß, was zu tun ist. Einbrecher und Handwerker sind für diese Aufgaben also nicht geeignet. Aktiv meint, dass ich beobachtet werden muss. Denn wenn ich in der Maske erbrechen sollte oder mich verschlucke, bleibt nicht viel Zeit, um die Maske zu entfernen, ansonsten ersticke ich. Der Vollständigkeit halber: Verschlucken und daran ersticken geht auch ohne Maske und kann spontan ins (Re)Animationsprogramm eingebaut werden. So einfach ist das. Ohne großen Zapfenstreich, ohne „Der Papa muss jetzt gehen“, ohne „Ich liebe Dich“, ohne „Der Wasserdruck der Heizung muss nach dem Entlüften kontrolliert werden“. Einfach weg… Und schon lässt die Heizleistung nach und keiner weiß warum. Ein Trauerspiel.
Der Pflegeaufwand ist beachtlich und ein Vollzeitjob für mehr als drei Personen. Aktuell warten wir auf eine Entscheidung der Krankenkasse, ob wir die dringend benötigte Unterstützung gewährt bekommen. Hinzu kommt der technische Aufwand für die tägliche Reinigung von Beatmungsgerät, Hustenassistent und sonstiger Hilfsmittel, Besorgen von Medikamenten, tägliche Arztbesuche für Infusionen, zuzüglich Ergo-, Logo- und Physiotherapie und ein brutaler Verwaltungsaufwand.
Fassen wir zusammen: Privatsphäre ist vorbei beziehungsweise muss sie neu definiert werden. Früher konnte ich ohne Telefon telefonieren, heute nicht einmal mit Telefon. Kommunikation findet statt, allerdings in neuer Form und für mich und meine Familie in einem stark reduzierten Maße. War ich doch spontan, laut, witzig, diskussionsfreudig. Meine Antworten dauern nun lange und fordern dem Gesprächspartner einiges an Geduld und Zurückhaltung ab. Spontan ist nicht mehr möglich, Witze sind nicht mehr witzig und die Tonlage der Computerstimme transportiert keine Emotionen. Wenn ich meiner Frau etwas Liebevolles sagen will, klingt es, als wollte ich ein Pfund Gehacktes bestellen. Der Verlust meiner Stimme ist der schwerste Verlust meiner körperlichen Fähigkeiten. Nicht nur, dass dadurch meine Teilhabe essentiell eingeschränkt ist und meine Gedanken sich stauen, auch meine Mitmenschen tun sich schwer, die Situation einzuordnen, und gehen häufig davon aus, dass es mit meiner Auffassungsgabe nicht zum Besten steht. Für Viellaberer wie mich, die gerne den ganzen Körper beim Erzählen einsetzen, kann ich ALS nicht empfehlen, legen Sie sich nach Möglichkeit etwas anderes zu.
Und noch etwas: Kleinkindererziehung mit Sprachcomputer ist die Königsdisziplin. Unser Sohn Hannes ist jetzt drei. Er versteht, dass die Stimme aus dem Computer sagt, was Papa sagen will. Neulich sagte er leicht forsch, als er mein Kopfgewackel nicht verstanden hat, „Was willst Du denn Papa? Benutz mal deinen Computer zum Sprechen“. Schlaumeier. Wir verstehen einander. Dennoch, es fehlen mit dem Computer Spontanität und Emotion. Gefährliche Situationen sind damit nicht zu beherrschen. Ich tippe hektisch aber notgedrungen viel zu langsam „Hannes, NICHT das Glas…“, dann lösche ich den Satz, noch bevor er gesprochen wurde, und schreibe „Nicht schlimm. Pass mit den Scherben auf und ruf Mama“. Wahlweise beginnt der Satz auch mit „Kruzifix, ich hab dir schon tausendmal gesagt…“, erzielt aber nicht den gewünschten Effekt. Auch Schimpfen ist mit Computerstimme nicht so richtig beeindruckend. Allerdings achtet der kleine Mann oft auf den Inhalt und versteht sehr wohl, vom Inhalt in Kombination mit seinem Verhalten, Rückschlüsse auf die Laune von Papa zu ziehen. Mit der Stimme entfällt auch das Singen, mit der Mundmuskulatur das Pfeifen. Meine Duette mit Thomas Quasthoff sind somit gehalten. Ein herber Verlust für mich (und wie ich finde für die gesamte Menschheit oder zumindest einige Stauteilnehmer auf der A6).
Wir befinden uns mitten im Rückzugsgefecht und ich verabschiede mich täglich von Dingen, die ich nicht mehr kann. Es ist ein ständiger Abschied und demnächst stehen die lebenswichtigen Funktionen an: Essen, Trinken, Atmen. Und natürlich habe ich Angst davor, an diesen Punkt zu kommen. Nach aktueller Lage wird es unvermeidlich sein. Die Forschung macht Fortschritte, aber ein Durchbruch, gerade bei der sporadischen Form der ALS, ist in den nächsten Jahren nicht zu erwarten. Für mich wohl zu spät. Für Hannes und meine Familie wohl zu spät. Für weltweit derzeit geschätzt 400.000 Erkrankte zu spät. Die ALS Ice Bucket Challenge 2014 war ein spektakuläres Ereignis, welches die Krankheit erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekanntgemacht hat. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Bei der Challenge wurden weltweit 190 Millionen und davon in Deutschland 3,5 Millionen Euro gespendet. „In die Bekämpfung von Krebserkrankungen fließen jährlich Milliarden“, sagte Prof. Dr. Thomas Meyer, Leiter der ALS Ambulanz der Charité Berlin, im SPIEGEL. Mit dem aktuellen finanziellen Engagement ist nicht zu erwarten, dass eine ALS-Therapie zu entwickeln ist, so Thomas Meyer. Durchhaltevermögen, stetiges und zielgerichtetes Engagement, interdisziplinäre Zusammenarbeit und der unbedingte Wille, Therapieerfolge zu erzielen, sind zwingend erforderlich, um nennenswerte Meter im Rennen gegen den Tod gutzumachen. Dass an völlig unnötigen Stellen Geld, Energie und Zeit verschleudert wird, ist nicht rühmlich, aber man darf erwarten, dass vorher die wichtigen Themen bedient werden. Die Hausaufgaben noch nicht gemacht, aber Knight Rider schauen.
Leben in der Lage. Nur weil bis jetzt kein entscheidender Schlag gegen die Krankheit erzielt werden konnte, muss das ja nicht in Zukunft so bleiben. Alles scheint unmöglich, bis es jemand macht. Ähnlich verhält es sich mit einem Wunder. Unsere Erfahrungen und unsere limitierte Vorstellungskraft grenzen uns häufig ein. Für Wunder machen wir (aus Bequemlichkeit) den lieben Gott verantwortlich. Der Koloss von Rhodos wurde nicht von Gott gegossen, sondern von seiner ambitionierten Schöpfung.
Und wie erwähnt, bin ich nicht frei von Angst. Ich befinde mich in einer ausweglosen Situation und die Aussichten sind fatal. Das sagen Erfahrung und der Verstand. Aber eben nicht hoffnungslos. Und sei die Chance noch so klein, sie ist da und es lohnt zu kämpfen. Kampf bedeutet, der Angst mit Mut Einhalt zu gebieten. Mut zu leben, Mut zu lachen, Mut Grenzen zu überwinden, Mut Belastungen zu ertragen, Mut zu lieben. Es stellt sich nicht die Frage, ob ich das will, sondern nur, wie ich damit umgehe. Es gibt hier keine Optionen für mich, denn ich habe den unbedingten Willen zu leben. Ich versuche, möglichst wenig Energie damit zu verbrauchen, meine missliche Lage zu betrauern, und meine Energie für mein Leben einzusetzen, für meine Familie.
Ganz vergessen: Gong.