Intensivpflege
Wir können den Deich aufschütten, aber nicht die Sturmflut abschaffen.
Es ist einige Zeit vergangenen seit dem letzten Blog. Ziemlich genau zwei Monate. In dieser vermeintlich kurzen Zeit hat sich vieles getan, es waren anstrengende Wochen, inklusive einem emotionalen Weihnachtsfest, zwei Infekten, fehlendem Personal, Besuch vom Hospizdienst und Einstieg in die Intensivpflege. Wenn sich die Lage nun auch langsam bessert, so ist noch eine Strecke zu gehen, bis wir in einem für alle Beteiligten routinierten und stressfreien Normalbetrieb ankommen. Vermutlich wird dieser Zustand aber ständiges Wunschdenken bleiben. Die Krankheit greift mit solch einer Dynamik in unser Leben ein, dass es nicht möglich ist, derart flexibel und zeitnah zu reagieren. Und so läuft man der Entwicklung ständig hinterher. Wir haben nun große Geschütze ins Feld geführt.
Um die letzten beiden Monate einordnen zu können, bedarf es eines größeren Kontexts. Spätsommer 2017 kam zum ersten Mal der Pflegedienst bei uns zum Einsatz. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde ich durch meine Frau gepflegt. Mit fortschreitender Krankheit und Kleinkind war dies auf Dauer nicht mehr zu leisten. Wir hatten uns mehrere Dienstleister eingeladen, aus dem Bauch heraus entschieden und eine sehr gute Wahl getroffen. Ich konnte mich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr alleine pflegen und so kam jeden Morgen um kurz nach sechs der Pflegedienst zur Bärenwäsche. Bereits nach wenigen Monaten war klar, das wird nicht reichen, da ich auch im Alltag komplett hilfsbedürftig wurde. Spätestens als ich mit hochriskanten Manövern versucht habe, alleine erfolglos von der Toilette aufzustehen, war auch mir klar, ich benötige ständige Hilfe, zudem war das selbständige Essen und Trinken ebenso dabei zum Problem zu werden. Sich rund um die Uhr um mich zu kümmern, ist mit Kleinkind nicht machbar und das wollte ich auch nicht von meiner Frau verlangen. Ohne weitere Hilfe zu organisieren und zuzulassen, wäre dies der definitive Brandbeschleuniger für meine ALS gewesen. Es galt Lösungen zu finden. Offizielle Unterstützung bekam ich in Form von Pflegegeld. Dies reicht bei weitem nicht, um den ganzen Tag betreut zu werden und verpufft im Brandherd ALS.
Natürlich gibt’s von allen Seiten immer gute Tipps. Das Problem an den Ratschlägen ist, dass niemand sich vorstellen kann, wie es tatsächlich ist, den Alltag mit ALS zu meistern, und wie wichtig es uns ist, meine und unsere Bedürfnisse vollständig zu berücksichtigen. Häufig fehlt den meisten die Fachkenntnis über die Erkrankung, den Verlauf, die Anforderungen und die Expertise über Rechtliches und offizielle Möglichkeiten der Unterstützung sowie verbundene Themen wie Versicherungen, Minijob, Midijob und so weiter. Selbst offizielle Stellen sind nicht themenübergreifend bewandert. Wir sind mittlerweile tief im Thema, was aber das Betreuungsangebot für unseren Bedarf nicht erweitert hat.
Ein entscheidender Punkt ist, was ich möchte und insbesondere was ich nicht möchte. Sie müssen wissen, ich bin ein ziemlicher Dickschädel und ein dominanter Alphabär. Ich bin sehr hartnäckig, dass meine Vorstellungen umgesetzt werden. Das heißt nicht, dass ich nicht offen für gute Argumente bin oder beratungsresistent. Aber ich lote alle Möglichkeiten aus und will das Optimum für uns herausholen, auch wenn es häufig herausfordernd für viele Beteiligte ist. Wenn es doch geht, warum sollten wir es nicht tun? Probleme schrecken mich nicht, sie treiben mich an.
Ich möchte zum Beispiel nicht von meiner Frau gepflegt werden müssen, von meiner Familie oder von Freunden. Das mögen Sie vielleicht für sich anders sehen. Ich für mich will das eben nicht. Punkt. Ich will meine Lebenszeit so normal wie irgend möglich verbringen. Ich brauche meine Frau als Partnerin und Mama, nicht als Pflegekraft und Haushälterin. Die Last auf unseren Schultern ist riesig und ich will nicht, dass wir darunter zusammenbrechen. Ich will leben und nicht überleben. Durch meinen Ausfall wurden meine Tätigkeiten wie selbstverständlich von meiner Frau übernommen, es gibt keine Erleichterung durch mich, nur mehr Arbeit. Bis auf Dinge, die ich mit dem Computer machen kann, wird ausnahmslos alles von ihr gestemmt, inklusive Holzhacken – mein Fels in der Brandung. Mit ihr kann man nicht nur Pferde stehlen, sondern auch Elefanten über die Alpen führen und kriegsentscheidende Schlachten gewinnen. Daher ist es wichtig, dass jeder seine Auszeiten nehmen kann, so gut es eben geht, und die gewonnene Energie ins Familienleben einbringen kann. Es geht um unser Seelenwohl. Zufriedenheit und wenig Stress sind wesentliche Faktoren für mich, um mich meiner Krankheit entgegenstellen zu können. Und dies erfordert eine konsequente Fokussierung auf unsere Bedürfnisse. Eine ungewohnte Situation für mich, da ich immer bestrebt war, dass es allen gut geht, notfalls zu meinen Lasten. Nun sind meine und unsere Bedürfnisse von mir priorisiert worden. Ich bringe nicht mehr die Energie auf, im diplomatischen Chor mit Kreidestimme zu singen. Vor meiner Erkrankung hatte ich immer gescherzt, dass, wenn ich es mal ruhig haben wolle, ich als Krisenvermittler in den Gazastreifen gehe. Nun brauche ich meine Energie für mich und meine kleine Familie - für mein persönliches Krisengebiet: ALS. Ähnlich wie der Nahost-Konflikt kostet die ALS Leben und scheint unlösbar, wäre aber mit gutem Willen, uneigennützigem Engagement und ausreichend finanziellen Mitteln lösbar. Aber so lange wir genügend Distanz zum Elend haben, fühlen wir uns häufig nicht betroffen und verantwortlich. Anstatt Probleme zu lösen, hoffen wir, dass der Kelch an uns vorüberzieht und wir nicht betroffen sind. Ich schweife wieder aus, zurück zur Bärenpflege.
Um eine Vollzeitbetreuung zu gewährleisten, haben wir uns entschieden, über eine Agentur auf osteuropäische Betreuungskräfte zurückzugreifen. Dies klingt im ersten Moment super. Unser Anforderungsprofil war hoch. Weiblich, unser Alter oder jünger, Pflegeerfahrung, Führerschein, keine Angst vor Hunden und gute bis sehr gute Deutschkenntnisse. Verschiedene Agenturen wurden angefragt und schon … wurde niemand gefunden, der unseren Anforderungen entsprach. Dass kein berenteter sibirischer Holzfäller, mit fünfzig Jahren Berufserfahrung als Schlachter, ohne Führerschein, dafür aber mit Hundehaarallergie dabei war, war verwunderlich. Immerhin hätte der bestimmt gut kochen können. Man kann eben nur mit den Mädchen tanzen, die da sind, und so baten wir zum Tanze. Ich will darüber nicht groß palavern, könnte aber ein Buch mit unterhaltsamen Begebenheiten füllen. Nur so viel: wir hatten ein unterschiedliches Taktgefühl und differente Vorstellungen vom Tanzen. Ich tanze auf das, was die Kapelle spielt. Es ist eher unüblich der Kapelle zu sagen, ihr spielt jetzt mal das, was ich tanze. Zudem gilt der Grundsatz, wer die Musik bezahlt, bestimmt was sie spielt. Und es wurde kein Capoeira erwartet, sondern ein Standardtanz.
Nach einem Agenturwechsel haben wir eine sehr gute Kraft gefunden. Die Konversation erfolgte auf Englisch, was aber für uns kein Problem darstellte. Leider haben wir nur eine Kraft auf diesem Level gefunden, ALS trauen sich wenige zu, und schlussendlich gab es Probleme für unsere Anforderungen passende Helfer zu finden. Aufgrund meines Krankheitsverlauf war zudem klar, dass diese Betreuungsform ebenso an ihre Grenzen gekommen ist. Ende des Jahres stellten wir einen Antrag auf 24-Stunden Intensivpflege bei der Krankenkasse und überbrückten den Dezember ohne Personal. Die Intensivpflege hat erstmal nichts mit der normalen Pflege zu tun, ist additional zu sehen und begründet, weil ich beatmet werde und mein Leben salopp gesagt an einem seidenen Pfaden hängt. Aufgrund der Beatmung bedurfte es ständiger Überwachung. Es war Zeit für den nächsten Schritt, Zeit für Professionalisierung.
Der Meinung, dass Intensivpflege angezeigt ist, schlossen sich kurzfristig der MDK und die Krankenkasse an. Seit Januar werde ich nun zu Hause im Dreischicht-System gepflegt. Eine massive Veränderung unseres Lebens, ohne es zu werten.
Nun ist ständig eine Person um mich, die sich ausschließlich um mein Wohlergehen kümmert. Eine große Erleichterung und vor allem Sicherheit. Aber auch eine ungewohnte Situation, ständig Menschen in Sichtweite zu haben. Es gibt keinen unbeobachteten Moment mehr in meinem Leben, ich muss Privatsphäre für mich neu definieren. In diesem Prozess bin ich noch mittendrin. Manchmal geht es besser, manchmal schlechter, aber es ist eine Sache der Gewöhnung und der Vertrautheit. Es ist ein Dienst von Menschen für Menschen. Und so kommt es, dass es menschelt. Nichts Offensichtliche bleibt verborgen. Es braucht Vertrauen, Lockerheit und das Öffnen der Schamgrenze für einen erweiterten Personenkreis. Damit pfleglich umzugehen, schafft die Basis für ein professionelles und entspanntes Miteinander. Aber auch Verständnis für die Individualität des Pflegepersonals wird benötigt. Ich ertappe mich häufig beim geistigen Schlaumeiern, wo ich der Meinung bin, ich kenne den optimalen Ablauf und genauso müsse es laufen, zum Beispiel beim Transfer. Häufig habe ich recht, aber nicht selten sind die Vorgehensweisen des Pflegepersonals ebenso effektiv. „Mach dich locker“ lautet das Motto. Wobei auch klar ist, natürlich haben wir Spielraum, aber ich begrenze diesen wenn nötig.
Der Tierschutzbund ist sicherlich stolz auf meinen Pflegedienst: Ich bin gefühlt der am besten dokumentierte Bär der Welt. Im Vergleich zur Intensivpflege wirken Amazon und Google wie Waisenknaben. Wann war der Bär auf Toilette und was war das Ergebnis seiner Bemühungen, wann und wie hat er geschlafen, wie hört sich seine Lunge an, wie sind Sauerstoffsättigung und Puls, was hat er wann gespeist und getrunken, Hobbys, Vorlieben, Vitae und einiges mehr. Mit der Intensivpflege kommt mehr ins Haus als Hilfe beim Waschen.
Und wir leben als Familie in unserem Haus. Dieser Faktor ist nicht zu unterschätzen und für das Pflegepersonal sicherlich nicht immer einfach. Es braucht Gespür dafür, wann es angebracht ist unsichtbar und eins mit der Raufasertapete zu werden. Auch hat jeder ungeschriebene Regeln für das Leben in seinem Haushalt. Keine Straßenschuhe in der Wohnung, der Hund soll nicht auf die Couch, Dinge haben ihren festen Platz. Da das aber niemand riechen kann, haben wir alle Dinge, die einen atomaren Erstschlag auslösen können, sicherheitshalber niedergeschrieben. Der sichere Pfad durchs Minenfeld – wer schreibt, der bleibt.
Demnächst steht eine weitere häusliche Veränderung an. Ich ziehe aus unserem Ehebett aus und beziehe ein eigenes Zimmer mit Pflegebett, das optimiert ist für meinen Pflegebedarf. Es wird Stand heute mein letzter Umzug werden. In diesem Zimmer muss ich vermutlich und hoffentlich lange leben, und machen wir uns nix vor, wahrscheinlich auch sterben. Daher muss es zu Lebzeiten den maximalen Komfort und einen hohen Automatisierungsgrad haben. Ich bin gerade in der Planung und werde berichten.
Der Auszug aus dem Ehebett fällt mir sehr schwer, aber es ist unvermeidbar. Anstatt der Funkelperlenaugen meiner Gattin sehe ich jetzt morgens die müden Augen der Nachtschicht. Es gilt, sich Dingen zu fügen, aber immer das Beste daraus zu machen. Unser Leben verändert sich rasant.
Als die Diagnose vor zweieinhalb Jahren gestellt wurde, war das Ausmaß der Auswirkungen auf unser Leben nicht absehbar. Am Anfang waren die Gedanken sehr grob. Diagnose, Pflegefall, Tod. Zeitansatz circa drei Jahre, mit mehr sollte zur Sicherheit nicht geplant werden. Vermutet wurde, dass die Zeit bis zur Fährfahrt von Leid und Trauer geprägt sein wird, die Sonne sich verdunkelt und wir nun einen Sterbeprozess einleiten, der unseren Alltag bestimmt. Anscheinend wollte Simon Petrus unserer Theorie nicht folgen, und die Sonne erstrahlte am nächsten Tag in bester Hochsommermanier. In den nächsten Tagen und Wochen war es ähnlich. Zwar schmerzte die Theorie des schnellen Ablebens, doch wenn man es genau und sachlich betrachtet, gab es aus meiner Sicht weder großes Leid noch Grund für Trauer. Ansichtssache. Ich arrangiere mich jeden Morgen neu mit der Lage. Es überwiegt die Freude am Leben. Dies schmälert nicht die Tragik, übertüncht auch nicht meine Traurigkeit, aber es ändert die Verhältnismäßigkeit zugunsten der guten Laune. Ich lebe gerne, bin mit mir zufrieden und verstehe das Leben jeden Tag als Geschenk – über Geschenke freut man sich. Negative Sichtweisen sind mir nicht eigen. Mein Glas ist ständig halbvoll.
Und so wandelte sich das Bild von unserer düsteren Zukunft, die das Sterben als Thema hat, langsam in eine Vision, weg vom in Stein gemeißelten Bild hin zur dynamischen Vorstellung vom Leben. Keine Henkersmahlzeit, sondern all you can live.
Wir haben eine gewisse Professionalität bekommen. Die verschiedenen Herausforderungen werden Stück für Stück angegangen. Nicht, dass wir einen Plan zum Abarbeiten hätten, an dessen Ende die optimale Lösung für alle Probleme inklusive Weltfrieden steht. Vielmehr wuchsen wir mit den Herausforderungen und versuchen nach bestem Wissen vorausschauend zu planen.
Es war und ist eine Metamorphose. Wir passen uns kontinuierlich meinem Zustand an. Es gibt keinen Stillstand, Agilität wird abverlangt. Es ist beachtlich wie die Strömung ALS uns hinausträgt und man erschrocken feststellt, dass man vom Ufer weit entfernt ist und das Überleben aus eigener Kraft nicht gerettet werden kann. Egal. Im Wasser lernt man schwimmen, und noch schwimme ich. Auch zünde ich regelmäßig eine Signalfackel in Form eines Blogs, pfeife auf der Signalpfeife, aber irgendwie will man mich nicht hören. Eigentlich sind wir nicht zu übersehen. Allein in Deutschland schwimmen noch weitere 8.000 Seelen ums Überleben, jährlich treiben 2.000 Tote an den Strand. Dem Rettungsteam fehlen die Mittel. Anstatt uns mit einem Seenotkreuzer retten zu können, wird noch am Einbaum gehobelt. Safe our souls.




