[ m a d e b y e y e s ]
Es ist mal wieder soweit, ich will was schreiben. Dieses Bedürfnis kam in letzter Zeit selten vor. Da das Schreiben mit Augensteuerung doch sehr anstrengend ist, konnte ich mich nicht dazu aufraffen. Mein Alltag ist sehr anstrengend geworden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig, lassen sich aber in wesentliche Blöcke zusammenfassen.
Natürlich ist ein wesentlicher Faktor meine fortschreitende Erkrankung. Durch die fehlende Muskulatur ist alles beschwerlich geworden. Selbst das Öffnen der Finger ist nicht mehr möglich und muss vom Personal übernommen werden. Auch der Kopf und die Augen machen schlapp.
Ein weiterer Punkt ist die Pflegesituation. Seit Januar bekomme ich Eins-zu-Eins Intensivpflege. Dies bedeutet, dass ich ständig eine Pflegekraft um mich habe, die mich betreut, pflegt und meine Vitalfunktionen überwacht. Dies erfolgt durch einen spezialisierten Pflegedienst in einem Drei-Schichtbetrieb, rund um die Uhr, an jedem Tag, den Gott mir schenkt. Eine wahnsinnige Erleichterung für uns. Allerdings ist die Umstellung der Lebenssituation und die Zeit bis zu einem routinierten Betrieb mit großen Mühen verbunden und anstrengend für alle Beteiligten. Bis aus Fremden vertraute Personen werden, bis Abläufe geregelt sind und sich eingespielt haben, bis Dienstpläne für alle passend sind, bis sich der Personenkreis reduziert, die Chemie stimmt, Organisatorisches geregelt ist, das dauert. Nun nach drei Monaten legt sich der Staub und es zeichnen sich Strukturen eines Regelbetriebs ab und eines festen Personenkreises.
Bis zu diesem Zeitpunkt musste Klaus viel erklären, was schlussendlich Zeit, Kraft und Nerven kostete, aber unvermeidbar ist, sind meine Pflegekräfte doch examinierte Pfleger und keine examinierten Hellseher. Wobei einige Kolleginnen und Kollegen_ Sie merken, ich sehe mich als arbeitendes Teammitglied - langsam vergleichbare Fähigkeiten entwickeln und gefühlt meine Wünsche gedankenlesend erfüllen, eine geniale Begabung und Fürsorge, für die ich von ganzem Herzen dankbar bin. Doch bis dahin war es viel Arbeit und Übung und das, was ich an Schreibkraft sonst in den Blog investierte, verbrauchte ich nun für Sätze wie: „Im Schrank oben links, silberne Dose“, „Grünes Handtuch oben, grau unten“, „Fernsteuerung gedrückt halten, sonst fährt der Lift nicht“, „Orangensaft bitte nicht mit kohlensäurehaltigem Wasser mischen“, und so weiter. Das was ein sprachfähiger Mensch schnell ausgesprochen hat, tippe ich mühselig in den Sprachcomputer.
Ein weiter Punkt ist der Smalltalk, den ich ja auch über den Sprachcomputer führe. Seitdem Hochbetrieb im Haus ist, nehmen logischerweise auch die Konversationen zu. Eigentlich bin ich ein Morgenmuffel und war immer maulfaul, bis ich im Büro ankam, um dort aber zu verbaler Höchstform aufzulaufen. Nun ist es um ein Vielfaches anstrengender zu kommunizieren und ich muss morgens schon ran. Sobald ich die Augen öffne, sehe ich Personal, das hellwach, angezogen und gut gelaunt ist. Sobald meine Augen in der Lage sind, offen zu bleiben, quasselt der höfliche Klaus schon los, „Guten Morgen“, „Bitte“, „Danke“, „Schönes Wetter“, „Die neue Haarfarbe steht Dir gut“, „Schöner Pullover“, „Bitte die roten Socken und die grüne Hose“, „Rotes T-Shirt… Nein bitte das andere“. Über den Tag geht das so weiter. An durchschnittlichen Tagen betreten ungefähr sieben Personen unser Haus. Darin enthalten sind drei Schichtwechsel vom Pflegedienst. Dies bedeutet ein Fachgespräch zur Übergabe, garniert mit Smalltalk unter den Pflegekräften. Dieser Smalltalk beinhaltet immer eine persönliche Meinung zur aktuellen Wetterlage und ein persönliches Statusupdate. Erweitert wird es um die aktuelle Verkehrslage, die Benzinpreise oder Kochrezepte. Danach wird der Hund in Zimmerlautstärke abgefeiert. „Ei was ein Feiner. Wie geht’s Dir denn Mäuschen?! Ach Gott, Du freust Dich ja so. Wie süß, wie hübsch, wie lieb. Du wackelst so süß mit dem Schwanz“. Danach ist dann der Bär dran. Die Wortwahl ist ähnlich, nur das mit dem Schwanz hat noch niemand thematisiert. Dafür mach ich aber anstandslos Sitz, ich weiß eben was sich gehört.
Dann kommen weitere Besucher, wie zum Beispiel täglich irgendeine Therapeutin und wahlweise weitere Gäste wie Ärzte, Hospizdienst, Familie, Freunde, Kollegen, Handwerker und so weiter. Natürlich sind alle gut erzogen und führen auch Smalltalk mit allen Anwesenden. Auch hier steht auf der thematischen Unbedenklichkeitsliste das Wetter auf Platz eins, gefolgt von Verkehrsinformationen. Als stiller Beobachter fällt einem auf, dass sich die Themen wiederholen. Die empfundene Wetterlage ist zum Beispiel überwiegend schlecht. Sollte wider Erwarten ein bezaubernder Frühlingstag dazwischenkommen, hat bestimmt irgendwer eine Allergie und bleibt kein anderer Ausweg, regt man sich über das „schlimme“ und „grausame“ Wetter der letzten Woche auf. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner und garantiert Gemeinsamkeiten. Auch beim Verkehr sind sich alle einig, dass die Baustellen Teufelswerk sind, reine Schikane und die Verantwortlichen unfähig, das mal vernünftig zu planen. Allgemein wird sich gern aufgeregt, man freut sich wenig, das Leben ist hart. Somit verbringe ich viel Zeit am Tag mit dem Anhören von Moll-Tönen und muss feststellen, dass es mir anscheinend blendend geht.
Ich muss gestehen, dass die Darstellung leicht überzogen ist, und ich habe bei dem gezeigten Bild den Kontrast erhöht, um zu verdeutlichen. Ich würde nicht anders handeln, wäre ich einer der Pfleger oder Besucher. Wenn man selbst aktiv ist, unterscheidet sich das wesentlich davon, zur Passivität verdammt zu sein. Wenn Sie fünf Stunden im Spaßbad toben, stört sie das Wasser nicht, wenn Sie aber stillsitzen müssten und nur alle paar Sekunden einen einzigen Tropfen ins Gesicht bekämen, bräuchte es keine fünf Stunden, bis Sie sich gestört fühlen würden. Daher ist das Bild überzeichnet, um ein Gefühl dafür zu bekommen. Wer sich noch schwer damit tut, ich könnte auch steigern und die Farben übersteuern, dann käme jeder Besucher durch eine Nebelwand, angestrahlt von bunten Scheinwerfern, mit eigener lauter Einlaufmusik durch unsere Haustür, laut angekündigt von einem Stadionsprecher: „Meine Damen und Herren, liebe Gepflegten, begrüßen Sie mit mir mit einem tosenden Applaus die Spätschicht - mit der unglaublichen Bilanz von 427 Einsätzen als examinierter Profi, 4 erfolgreichen Reanimationen, NUUULL verlorenen Kunden und einem Kampfgewicht von 73 Kilogramm. Freunde hier ist er, der Reanimator des Altenstifts „Sonnenuntergang“, der Sekretbezwinger, der Schrecken der Aspiration, aus Deutschland, Bobbi Mööööhrenschläger. Ladys and Gentleman, meine Damen und Herren, bitte erheben Sie sich nach Möglichkeit von Ihren Plätzen für die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland, live gesungen vom Polizeichor des Saarlandes und begleitet vom Heeresmusikkorps Koblenz unter der Gesamtleitung von Oberstleutnant Alexandra Schütz-Knospe“. Ich drifte ab, pardon.
Für den Besucher ist es ein einzelnes Plauderründchen am Tag, für mich ist das Dauerbeschallung. Natürlich gibt’s auch ganz normale Tage, ohne dass ich mich fühle wie im Panoptikum. Die Dosis macht das Gift und nach nunmehr über zwei Jahren Pflege weiß ich von Kuriositäten zu berichten, damit ließen sich unterhaltsame Bücher füllen. Wo ich es gerade erwähne: Häufig wurde die Idee an mich herangetragen, ich solle doch mal ein Buch schreiben. Nachdem ich mich nun länger mit dieser Idee beschäftigt habe, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass ich das machen will. Kleiner Haken an der Sache ist, dass von den angefragten namhaften Verlagen niemand will. Diese haben gerade erst ähnliche Bücher veröffentlicht oder sie sind zu klein und das finanzielle Risiko somit zu hoch. Beides verständlich und leider sind ohne Kontakte in die Verlage die Chancen gering, dass das zu Lebzeiten noch was wird, ist diese Zeitspanne doch vermutlich überschaubar. Somit müssen alle, die gerne ein Buch von mir lesen wollen, mit dem Blog, den Zeitungsartikeln, den Beiträgen auf Facebook und den Veröffentlichungen auf Instagram vorliebnehmen. Eine Verschmelzung der Veröffentlichungen in Form eines Buches wird es vorerst nicht geben. Zur Hochzeit gehören eben immer zwei, da kann ich noch so laut rufen „Ja, ich will“. Sollten Interessenten mitlesen oder jemand, der jemanden kennt, der jemanden kennt, ich warte am Altar und ich denke, wir bekämen die Kirche bis zur Predigt gut gefüllt. Nun bin ich schon wieder abgeschweift, zurück zu Thema.
Privatsphäre muss neu definiert werden, aber auch behauptet werden. Zu schnell und schleichend wird unbemerkt unsere, insbesondere aber meine Privatsphäre verletzt. Dies scheint mit meiner Behinderung einher zu gehen und ich unterstelle keine böse Absicht, maximal Neugier. Das zeigt sich auch an meinem Sprachcomputer. Ich schicke eine Frage zum Nachdenken vorweg: Wie würden Sie sich fühlen, wenn jeder jederzeit auf ihrem Computer, Tablet oder Handy mitlesen könnte, sich neben Sie stellt, das auch tut und dann noch Ihre Inhalte kommentiert? Zum Beispiel Fotos „Da warst Du aber kräftig“ – enchanteur. Kein seltenes Szenario.
Ich benutze meinen Sprachcomputer für alles: Mail, Instagram, Facebook, Messenger-Dienste, Skype, Steuerung meines Handys, Hörbücher, Musik, Filme, Fotos, Shopping, Internetrecherche, Fernbedienung, Bürotätigkeiten, zum Arbeiten und vieles mehr. Wichtiges Feature ist allerdings die Sprachfunktion. Mit der synthetisch romantisch emotionslosen Stimme Namens Klaus bringe ich meine geschriebenen Worte zu Gehör. Ich bin recht fix im Schreiben. Für die Insider unter Ihnen, ich habe eine Tastaturverweilzeit von 200 Millisekunden pro Buchstaben. Der Gesprächspartner muss dennoch etwas Geduld aufbringen, bis er meinen Ausführungen lauschen darf. Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude. Häufig ist die Geduld jedoch limitiert und mein Gegenüber wird zu einem Dahinter. Man stellt sich hinter mich, ohne zu fragen und liest, was ich schreibe. Ich unterstelle hier keinen bösen Willen oder despektierliches Verhalten, nur mangelndes Wissen darüber, wie es sich anfühlt in meiner Lage. Gerne werden meine Sätze ergänzt, noch bevor ich sie geschrieben habe, allerdings mit mieser Trefferquote. Das ist vergleichbar, wie wenn sich jemand hinter Sie stellt und Ihnen bei jedem Satz ins Wort fällt und zudem seine eigenen Schlüsse zieht, Ihr Argument aber nicht zum Tragen kommt. Manchmal macht es natürlich auch absolut Sinn mitzulesen, aber dann lade ich dazu ein oder man fragt einfach.
Auch etwas respektlos ist es, sich mit weiteren Anwesenden in der Dritten Person über mich zu unterhalten, „weil es einfacher ist“. So auch geschehen bei einem unterirdischen Termin vom MDK. „Und er bewegt sich mit dem Rollstuhl selbstständig in der Wohnung?“ wurde meine Frau von den Gesandten des medizinischen Dienstes der Krankenkassen gefragt, während ich als zu begutachtendes Objekt direkt danebenstand. Die korrekte Antwort meiner Frau lautete: „Fragen Sie ihn selbst.“ – Ich war daraufhin höflich und habe darum gebeten doch „mit“ mir zu sprechen und nicht „über“ mich. Danach war die Stimmung eisig. Einmal mit Profis arbeiten. Der Auftritt und das Gutachten waren zum fremdschämen. Das Hilfsmittel Roboterarm wurde abgelehnt. Aber dieser Tanz ist noch nicht ausgetanzt, ich werde zu gegebener Zeit ausführlich berichten, solche Ruhmestaten sollen nicht der Allgemeinheit vorenthalten bleiben.
Ich stelle gerade fest, dass es ein ziemlicher Mecker-Artikel wurde. Das zeigt, dass die allgemeine Belastung nicht zu unterschätzen ist. Und glauben Sie mir, ich bin nicht zimperlich und ein Quell der guten Laune. Allein die ständige Anwesenheit einer weiteren Person an meiner Seite löst bei mir bisweilen Stress aus. Und ob man es will oder nicht, es ist abhängig von der Person und deren Performance. Der Nasenfaktor ist nicht zu unterschätzen, es menschelt beachtlich. Da es für den Rest meines Lebens so sein wird, dass Menschen mich auf meinem Weg in engster Form begleiten werden, müssen wir uns riechen können und wollen. Ich betone ausdrücklich, dass das eine beiderseitige Sache ist. Ich bin weiß Gott nicht immer ein Sonnenschein und bin bisweilen ein pingeliger Perfektionist und Schlaumeier. Auch bin ich unheimlich gerne im Recht, insbesondere wenn ich recht habe, und kann diskussionsfreudig diese Sachverhalte zu Ende diskutieren, ganz zu Ende. Das kann man in Summe mögen, muss man aber nicht, da bin ich auch niemandem böse. Aber wenn wir uns zusammen auf den sicherlich steinigen Weg machen, dann sollte das gegenseitige Wohlergehen eine Herzensangelegenheit sein. Dazu kommt das Verständnis füreinander und für die Themen, die uns bewegen. Die Chemie muss stimmen und das mit dem Riechen ist im wahrsten Sinne des Wortes nicht zu unterschätzen. Spaß soll es machen. Kein einfaches Unterfangen und wie in einer guten Beziehung ist vieles Arbeit, Arbeit, Arbeit. Ich will nicht meckernd schließen, denn wir denken mit dem Pflegedienst und seinen Pflegern, aber auch den Akteuren hinter den Kulissen herzensgute Profis an der Hand zu haben, die bemüht sind, zum Hellseher zu werden. Danke dafür. An dieser Stelle sei noch erwähnt, dass wir immer noch weitere examinierte Pflegekräfte in der Bärenpflege suchen.
Mit den avisierten Personen im Team Bär haben wir Menschen gefunden, mit denen ich mir gut vorstellen kann, alt zu werden. Feine, zum Teil sehr unterschiedliche Menschen, besondere Menschen, auf die ich mich freue und die unser Leben bereichern. Teilweise schräge Vögel, wobei das bekanntlich Ansichtssache ist, und teils so ganz anders als ich, teilweise mit erschreckenden Gemeinsamkeiten, in jedem Fall verbindet uns viel. Und bei uns gibt’s ja nicht nur mich, sondern auch meine Frau, den Besten unserer Söhne und Frieda, und zusammen sind wir unausstehlich. Ich freue mich auf das, was noch kommt, und vielleicht ist ja auch ein Wunder dabei.
When you walk through a storm
Hold your head up high
And don't be afraid of the dark
[…]
Walk
on, walk on
With hope in your heart
And you'll never walk alone