[ m a d e b y e y e s ]
Wir sind spät an. Wobei das relativ ist und per se erstmal nichts Schlechtes sein muss. Gemeint ist, dass wir bei der Umsetzung der üblichen Mainstream-Lebensagenda im Vergleich älter waren, als ein Großteil der anderen verheirateten Bausparer-Eltern. Ich habe jetzt keine statistische Erhebung gemacht, dafür aber das statistische Bundesamt. 2015 war das Durchschnittsalter lediger Männer in Deutschland bei Eheschließung 33,8 Jahre, das von Frauen 31,2 Jahre. Im Schnitt waren wir genau 4,3 Jahre später an – hätte ich mir ehrlich gesagt krasser vorgestellt. Eigentlich kann ich den Beitrag hier beenden, das entspricht nicht meiner Erwartungshaltung - erstaunlich wie Fakten einen aus dem Konzept bringen können. Das Durchschnittsalter der Mütter bei Erstgeburt liegt bei rund 30 Jahren. Im Schnitt sind wir mit der Familienkonzeptumsetzung statistisch gesehen 5,3 Jahre über Familie Mustermann. Die Bärsche Schnittmustererhebung.
Das Leben ist kein Projekt, das abgearbeitet werden muss, mit dem Ziel möglichst im Plan zu bleiben, zumindest für uns nicht. Mein Anspruch war es jedoch, mit meinen Pfunden zu wuchern, bevor meine Pfunde wuchern. Nach der Realschule und dem Fachabitur absolvierte ich meinen Wehrdienst und machte meine Ausbildung zum Fachinformatiker für Systemintegration. Danach arbeitete ich noch ein Jahr in diesem Beruf und entschloss mich, zum Erstaunen meiner Eltern, ein Studium dranzuhängen. Zum Erstaunen deshalb, weil ich seit je her nicht für übertriebenen schulischen Ehrgeiz bekannt war. Ich war jetzt kein schulischer Pflegefall, aber ich musste zum Jagen getragen werden, zumindest in der Schule. Nach der Realschule folgte die Fachoberschule für Wirtschaft, hier wurde langsam mein Ehrgeiz geweckt, gute Zensuren zu ergattern. Keine sehr guten - gute wollten mir genügen. Meine schulischen Bemühungen orientierten sich streng am ökonomischen Minimal-Prinzip: Ich wollte das angestrebte Ziel mit möglichst minimalem Aufwand erreichen. In der Berufsschule begann ich, dieses System auszureizen. Da die Berufsschule keine hohe Hürde darstellte und nachdem ich mit dem erfolgreichen Abschluss meiner Ausbildung eine gesicherte berufliche Basis hatte, wagte ich den Versuch eines Studiums. Ich wollte meine Grenzen ausloten und mit etwas Glück die Herausforderungen auch erfolgreich bestehen. Eine Wohngemeinschaft direkt auf dem Campus war für die nächsten vier Jahre mein Zuhause. Eine fantastische und gesellige Zeit mit tollen Menschen und wenig besuchten Vorlesungen. Ich hatte mein Konzept verfeinert, ausgelotet, welche Vorlesungen von Nöten waren und was man sich aneignen muss, um mindestens die Klausuren zu bestehen. Ein Vabanquespiel. Der von mir als notwendig erachtete Stoff wurde gesichtet und der Vorlauf geplant. Beispielrechnung: Wenn das benötigte Skript 600 Seiten hat und ich es schaffe, von dem Thema 20 Seiten pro Tag zu lernen, brauche ich einen Monat. Zusätzlich eine Woche Nachlauf, um markierte Stellen nochmal zu lesen, plus eine Woche Sicherheitspuffer. Das bedeutet sechs Wochen nichts anderes, als diszipliniert Lernen. Und natürlich gab es nicht nur eine Klausur und somit viel Kaffee und wenig Schlaf. Dies war im Nachhinein eine riskante Taktik, aber sehr effektiv. Der erfolgreiche Abschluss als Diplominformatiker (FH) mit unerwartet gutem Ergebnis bestätigte dies. Davon war beim besten Willen nicht auszugehen, war ich doch nicht nur beim Lernen konsequent, sondern auch beim Feiern. Eine fantastische Zeit, in deren Erinnerung ich noch heute gerne bade.
Nach dem Studium habe ich angefangen, bei prego services zu arbeiten. Hier bin ich bis heute berufstätig. prego services ist ein mittelständisches Unternehmen und bietet Individuelle IT- und Businesslösungen an. Seit nunmehr fast zwölf Jahren arbeite ich beim selben Verein und habe dies nie bereut. Ich habe prego services viel zu verdanken, wurde gefordert und gefördert. Hier stehen Werte nicht nur auf dem Papier. Begonnen habe ich als Systemmanager im Datacenter. Danach war ich Teamleiter und Fachbereichsleiter.
Kurz nach dem Studium habe ich meine Frau kennen und lieben gelernt. Nach etwa anderthalb Jahren zogen wir zusammen und Katrin krempelte meine, respektive unsere Wohnung komplett um. Unsere Blickrichtungen verschoben sich und wir blickten gemeinsam in eine sorgenfreie Zukunft. Nicht dass jeder Tag eitel Sonnenschein gewesen wäre. Natürlich krachte es auch mal und das Leben hielt auch Belastungen für uns parat, die man aber tragen konnte und die zu erwarten waren - sind wir doch Hauptdarsteller in unserem „wahren“ Leben und nicht bei Sissi.
Vor sieben Jahren kam Frieda zu uns, da war sie ein Jahr alt. Friedolisnky, Friedolin, Friedamaus oder Friedl Becker-Bär ist ein Gebrauchthund aus dritter Hand, Binnenmigrantin aus Malta, eine mit Liebe gemachte Promenadenmischung und Familie. Mit Frieda waren wir jedes Wochenende auf Tour. Wir machten längere Wanderungen im schönen Saarland und im “Grenzland“. Gerade beim Wandern und kulinarisch hat unsere Region einiges zu bieten, das wir gerne in Anspruch nahmen und Friedbärt war immer mit dabei. Wir liebten es, draußen zu sein. Outdooraktivitäten waren beziehungsweise sind für uns pure Erholung.
Wir mögen es einfach. Urlaube führten regelmäßig zum Wandern in die Alpen oder zum Camping am Etang du Stock, wo meine Schwiegereltern einen älteren Wohnwagen hatten. Das war die pure Freiheit nach einer stressigen Arbeitswoche. Campingplatz eben, da interessieren nicht Titel, Auto oder Kontostand. Da treffen sich Michael, Thomas und Barbara zum Grillen in Badeshorts, Thomas bringt Nudelsalat mit, Michael Schwenker und Barbara Bier. Man hilft sich, man kennt sich, man schätzt sich – auch in Badeshorts.
Durch meine Frau habe ich das Segeln gelernt. Katrin war bereits eine geübte Seebärin, ihre Eltern hatten ein Segelboot am See liegen und segelten seit Jahr und Tag. Segeln in Kombination mit Camping wurde zu einem gemeinsamen Hobby, das meine Frau und ich geliebt haben. Wir machten einen Segelkurs zusammen und genossen diesen Sport. Frieda lag völlig entspannt in der Kabine, selbst wenn das Boot schon beachtliche Krängung hatte, ich sichtbar nervös wurde und meine Frau mutig (und leicht wahnsinnig) wie Captain Ahab hart am Wind segelte. Meine Frau ist furchtlos und risikofreudig, im Gegensatz zu mir. Ich wäge immer alle Optionen ab und wähle nach Möglichkeit für alle Beteiligten die risikoärmste. Das hört sich in der Formulierung ziemlich pfiffig an, wird im Volksmund aber eher als Angsthase bezeichnet. Tatsächlich war dieses Verhalten in den meisten Fällen die beste Wahl, aber nicht in allen.
Ähnlich verhält es sich mit Skifahren. Katrin zuliebe habe ich mit dem Skifahren angefangen. Ich war vorher noch nie im Skiurlaub. Und siehe da, es machte mir Spaß. Zugegebenermaßen war aller Anfang schwer, ich erinnere mich daran, dass außer mir und meinem Skilehrer auf dem Teppichlift keiner größer als ein Meter war und ich für Erheiterung sorgte.
Ich merke gerade, dass ich den Faden verliere und ausschweife. Das ist alles das statistische Bundesamt schuld. Ich ändere die Flughöhe, sonst wird es ein mehrteiliger Roman.
Beruflich auf einem sicheren Niveau und mit der richtigen Frau an meiner Seite war das Fundament gegossen, auf dem wir nun gemeinsam unser weiteres Leben aufbauten. Es folgten ein Hauskauf und die Renovierungsarbeiten in kompletter Eigenleistung. Es war herrlich, aus eigener Hände Arbeit unser Eigenheim entstehen zu lassen. Dank der Wissensweitergabe von Papa, Opa und YouTube bin ich handwerklich in der Lage, vieles selbst zu machen, und meine Frau kann praktischer Weise nicht nur KitchenAid, sondern auch Hilti. Nachdem das Kinderzimmer fertig war, zog, anderthalb Jahre nach Hauskauf, Hannes bei uns ein. Es war perfekt und wunderschön. Leider mussten wir kurz darauf feststellen, dass ich wohl schon seit längerem schwer krank war, mein Körper das bis zu diesem Zeitpunkt wohl kompensieren konnte, aber nun die ersten beängstigenden Symptome auftraten, die in einer fatalen Diagnose mündeten. Den Rest kennen Sie.
Wir hatten viele Pläne als Familie. Mitunter wollten wir uns einen eigenen Wohnwagen zulegen. Ich war bereits am Suchen und mein neues Auto hatte deswegen eine Anhängerkupplung. Geplant war Platz für zwei Kinder, ansonsten sollte er möglichst klein sein und uns als spontaner Fluchthelfer aus dem Alltag dienen. – In meiner App ist sogar noch die Benachrichtigung aktiviert, falls neue Inserate online gehen, welche meinen Suchkriterien entsprechen. Daran merke ich, wie kurz das her ist und doch irgendwie aus einem anderen Leben.
Die Krankheit ALS hat unser Leben in kürzester Zeit völlig auf den Kopf gestellt und unsere bisherigen Pläne in ein anderes Leben verbannt. War ich bei Diagnosestellung für Außenstehende nicht erkennbar krank, saß ich wenige Monate später im Rollstuhl. Es ist atemberaubend, wie schnell kleine Stufen gefühlt zum Hoover Damm mutieren. Unser Haus musste so gut es geht innerhalb kürzester Zeit auf meine Bedürfnisse umgebaut werden. Ein beachtlicher finanzieller Aufwand, der nicht absehbar und vorgesehen war. Der Verlauf der Krankheit duldet in den meisten Fällen keine Verzögerungen beim Umsetzen solcher Maßnahmen und bringt Betroffene, welche eh schon das All-you-can-cry Paket am Hintern hängen haben, auch noch finanziell an ihre Grenzen. In kürzester Zeit werden Summen benötigt, die ohne Unterstützung nicht zu stemmen sind. Natürlich unterstützen die Krankenkassen, was bei uns auch der Fall war. Es wurden Maximalbeträge für Umbauten gezahlt, aber diese Summen verpuffen, als wollten Sie mit einem Eimer Wasser einen Hausbrand löschen. Auch fällt Ihre Kreditwürdigkeit, wenn Sie im Schnitt nur noch drei Jahre Restlaufzeit haben und die Erwerbsunfähigkeit schon vor der Tür steht. Ohne helfende Hände geht es nicht, so war das auch bei uns. Teufels Werk und Gottes Beitrag. Und es hört bekanntlich nicht auf. Ständige Veränderung, ständige Verschlechterung, bis zum Exodus. Deshalb empfehle ich allen Betroffenen, konsequent die anstehenden Themen anzugehen – geben Sie Gas: Es ist einfacher, wieder zu bremsen, als zu spät mit dem Schieben anzufangen.
Darüber zu lamentieren, ob wir früher in die Familienplanung hätten einsteigen sollen, bringt uns nicht weiter. Unsere Lebensplanung war nicht grob fahrlässig, noch war solch ein Schicksal absehbar. Das Leben ist gefährlich und endet garantiert tödlich. Es ist nichts für Angsthasen und ich habe mich daher entschlossen, glücklich zu sein. Nur mit diesem Mut gelingt es mir, die schönen Momente zu genießen und dafür das Risiko des Kenterns zu akzeptieren. Der Wind bläst stramm und wir segeln hart am Wind, mutig wie Captain Ahab. Ich habe eine furchtlose Crew an meiner Seite, allen voran meine Frau, und ich habe nicht vor, vorzeitig über Bord zu gehen. Und vielleicht legt sich der Sturm, bevor wir kentern. Nur weil wir keine Lösung kennen, ist es nicht unlösbar. Gerade weil wir es nicht wissen, ist es möglich.