[ m a d e b y e y e s ]
Als ich im April 2019 meine Mails abrufe, ist da eine handfesteÜberraschung dabei. Ich muss nach den ersten Sätzen erstmal die Absenderadresseprüfen, zu abgefahren ist der Inhalt. Allerdings in perfektem Deutsch, wasgegen Spam spricht, daher lieber mal den Absender abklopfen. Und siehe da: DieMail kommt tatsächlich vom Grimme-Institut. Also nochmal lesen. Und nochmal. Ichbin zu keiner Reaktion fähig und schaue regungslos auf den Monitor, mehrereMinuten. Mein Hirn arbeitet und versucht die Information zu verarbeiten, einzuordnen.Zur Sicherheit lese ich die Mail nochmal und muss danach vor Glück lachen. Eider Daus, mein Blog ist für den Grimme Online Award 2019 nominiert. Ich kann esimmer noch nicht so recht glauben und bin glückselig, dass ich die Ehreerfahren darf, für diesen renommierten Preis nominiert zu sein. Viel mehr nocherfreut mich der dadurch aufkommende Rückenwind im Kampf gegen ALS und für dierund 8.000 Betroffenen und ihre Familien in Deutschland.
Aber wie kommen die denn auf mich? Irgendwer muss meinenBlog als Vorschlag dort eingereicht haben und ich selbst war es definitivnicht, bin ich doch gefühlt nur ein Sandkorn am Sandstrand der Blogger. Ein Tagnach der Bekanntgabe der Nominierungen kontaktiert mich eine mir bis dahinunbekannte Frau und „gesteht“.
Liebe Friederike Körfer, vielen lieben Dank für dasEinreichen. Du hast den ALS-Betroffenen einen großen Dienst erwiesen. Öfter fragtman sich, was man als Einzelner denn tun kann um zu helfen. Du zeigst uns, dasseine gute Idee und deren Umsetzung, ohne großen Aufwand, Beachtliches leistenkann im Kampf gegen die Krankheit ALS. Machen ist wie Wollen, nur krasser.
Am 2. Mai war die Nominierungsveranstaltung in Köln. Bis zudiesem Zeitpunkt war die Information vertraulich zu behandeln. Um zwei Uhr warder offizielle Start der Nominierungsveranstaltung in der IHK Köln. UnsereAnreise aus dem Saarland dauert im Normalfall etwa zweieinhalb Stunden und wirwären geplant um halb eins nachmittags eingetroffen. Da mehrereFamilienmitglieder in Köln beheimatet sind, war ich die letzten 20 Jahregezwungen, mich in regelmäßigen kurzen Abständen in diversen Kneipen in Köln zutummeln und Kölsch zu verkosten. Die Route ist somit durchaus bekannt. Nun istmit Verzögerungen immer zu rechnen, daher hatten wir, für den Fall einesVulkanausbruchs in der Eifel, den nach unserer Ansicht großzügigen Zeitpuffer vonanderthalb Stunden eingeplant. Vielleicht hätten wir besser ein Tretboot nehmensollen. Von Saarbrücken über Saar, Mosel und Rhein runterschippern, unterhalbder Philharmonie anlegen und die restlichen paar Meter per pedes.
45 Minuten vor planmäßiger Ankunft, begann unsere Standzeitauf der A61. Vollsperrung. Unfall mit mehreren LKW. Dreieinhalb StundenVerzögerung. Ich hatte ALS, meine Mitfahrer Schnappatmung. Meine Frau und Simonbegleiteten mich nach Köln. Simon ist ein Freund und Familie. Wir teilenmitunter das rege Interesse an Glasbierfachgeschäften, diskutieren bis aufsMesser und können zusammen heulen vor Freude und Leid. Irgendwie werde ich ihnseit 25 Jahren nicht mehr los und wenn ich einen brauche, der mir tapfer undbedingungslos zur Seite steht, in guten wie in schlechten Zeiten, war und istauf ihn Verlass. Auch weilte er in Köln stets mit mir in denselben Kneipen undwir waren uns immer eine Stütze (auf dem Heimweg). Sein impulsiver Charakter istnicht unbedingt die qualifizierende Eigenschaft für einen besonnenenStauteilnehmer, aber dadurch war es kurzweilig und unterhaltsam.
Es wurde auf der Autobahn flaniert und gerastet wie auf der Bundesgartenschau.Stelzenläufer und Straßenzauberer habe ich vermisst, sonst war alles dabei.Auch starte ich demnächst eine Onlinepetition zum Aufstellen von Aschenbechernauf den Mittelstreifen der bundesdeutschen Autobahnen. Alle 25 Meter einenKippentopf und die Kosten decken wir über das Anheben der Tabaksteuer. Es istunvorstellbar, welche Mengen an Tabak dort konsumiert wurden. Vielleicht wärees auch eine Geschäftsidee Zigarettenautomaten an Pfeilern der Autobahnbrücken aufzuhängenund auf den Leitpfosten den nächsten Automaten mit einem Pfeilzeichen zumarkieren. Ich schweife aus, pardon.
Die Veranstaltung endete offiziell um vier Uhr. Um kurz vorvier und nach sechs Stunden Anreise erreichten wir die IHK. Nachdem meinRollstuhl abgeschnallt und fahrbereit war, wurde ich zu Asphalt gelassen. Wirwurden am Parkplatz direkt sehr freundlich in Empfang genommen und eiligenSchrittes zum Saal geleitet. Der offizielle Teil lag wohl in den letzten Zügenund war in der Abmoderation. Als wir den Saal betraten, wurde dies demModerator per Zettel mitgeteilt. Im Saal war es relativ dunkel. Da dieAugensteuerung sehr lichtempfindlich ist, musste ich den Sprachcomputer in derneuen Umgebung neu kalibrieren und auf meine Augen ausrichten, während derModerator just in diesem Moment die frohe Kunde des Eintreffens vertonte undaufgrund der Nominierung um Beifall bat.
Zum besseren Verständnis der Situation muss man wissen, dass ich während der Kalibrierung auf den Monitor schauen muss und keinesfalls abbrechen oder den Blick abwenden darf. Würde ich den Blick abwenden, wäre Klaus nachhaltig beleidigt, eine neue Kalibrierung wäre nicht ohne weiteres möglich, da die Augensteuerung aufgrund der abgebrochenen Kalibrierung nicht korrekt funktionieren würde. Dies dem ganzen Saal, dessen Blicke auf mir erwartungsvoll weilten, ohne Stimme zu erklären, wäre mit Pantomime schwer geworden. Das einzige, was ich pantomimisch gut erkennbar darstellen kann, sind „Stillleben“, „Schwerbehinderung“ und „Wasserfall“. Daher galt es, dieses Schreckensszenario unbedingt zu vermeiden, und ich schaute tapfer und unbeirrt auf meinen am Rollstuhl montierten Computer.
Bei jedem Kalibrierungspunkt ertönte ein Bestätigungston,
neun an der Zahl. Wissen Sie wie lange eine Kalibrierung dauert? Ich sage es
Ihnen: Exakt so lange, wie ein Beifall für eine Nominierung beim Grimme Online
Award. Der erste Eindruck zählt, prima. Völlig zu spät, scheinbar
desinteressiert, unhöflich und spielt gerade am Computer. Nachdem Klaus sich
dann gesammelt hatte, folgte das Interview:
[Moderator] Klaus spielt in Ihrem neuen Leben eine wichtige Rolle. Wer ist Klaus und wie funktioniert der?
Klaus ist mein augengesteuerter Sprachcomputer. Es wird infrarotnahes Licht ausgestrahlt und zwei Kameras erfassen, wie das Licht von den Augen reflektiert wird. Dadurch kann berechnet werden, wohin ich auf dem Bildschirm blicke. Spezielle Programme dienen mir als Werkzeuge. Zum Beispiel ersetzen sie Maus und Tastatur. Als Basis wird Windows 10 eingesetzt, das ich mit all seinen Möglichkeiten nutze. Ein spezielles Programm dient der Sprachausgabe. Im System ist die genutzte Stimme mit dem Namen Klaus bezeichnet. Daher die Romantik bei der Namenswahl. Leider ist Klaus lichtempfindlich, was seine Verwendung bei Sonnenlicht unmöglich macht.
[Moderator] Wie findet Ihr dreieinhalbjähriger Sohn Klaus?
Hannes, unser Sohn, hat kein spezielles Verhältnis zu Klaus. Für ihn ist das Papas Computer. Die Stimme aus dem Computer ist für Hannes Papas Stimme. Er kennt und erkennt auch noch meine Stimme von vor dem Stimmverlust, ich hatte mit ihm immer das Sprechen geübt. Wenn er meine Mimik nicht versteht, sagt er auch schon mal genervt „Papa benutz Deinen Computer". Für Hannes bin ich, wie ich bin. Er sieht mich als völlig normal an. Ich bin für ihn nicht schwerbehindert, sondern nur Papa. Natürlich ist Papa mit coolen Features ausgestattet und eine rollende Mediathek, mit Martinshorn, Feuerwehrsirene oder Dinosauriervideos.
[Moderator] Und mit der dahinterstehenden Software und Technik, mit der schreiben Sie ja auch Ihren Blog. Das sind ganz schön lange Texte. Wie lange sitzen Sie da immer so dran?
Alles ist ausschließlich mit meinen Augen gemacht. Die reine Nettozeit habe ich nie erfasst. Aber ich benötige von der Idee bis zur Veröffentlichung in etwa eine Woche. Ich schreibe die Texte in mehreren Etappen und nach Fertigstellung redigiere ich sie mit einem Abstand von etwa zwei Tagen. An diesem Punkt darf meine Frau noch ein Veto einlegen und danach geht es online. Abhängig von meiner Tagesform, kann ich keine Texte schreiben. Wenn meine Augen zu müde sind, ist relativ flüssiges Schreiben unmöglich, die Gedanken und Formulierungen versiegen, während ich versuche zu tippen.
[Moderator] Warum machen Sie das trotzdem, auch wenn das so aufwändig ist?
Nur weil sinnstiftende Tätigkeiten aufwändig oder anstrengend sind, ist das ja kein Grund sie nicht zu tun. Ich war schon immer sehr mitteilungsbedürftig, diskussionsfreudig und nicht faul darin, meine Sicht der Dinge mitzuteilen. Ich will von unserem Weg berichten und meine Ansichten teilen. Vielleicht ist für den ein oder anderen was Hilfreiches dabei. Ich will Hoffnung machen und zeigen, dass das Leben auch abseits der Normalvorstellung eines glücklichen Daseins nicht weniger fröhlich und lebenswert sein muss. Zudem ist es mir ein Bedürfnis, auf die Krankheit ALS aufmerksam zu machen, in der Hoffnung in irgendeiner Weise Positives zu bewirken. Ich will meine Geschichte stellvertretend für jährlich mehr als 2.000 Tote allein in Deutschland erzählen. Es soll Bewusstsein geschaffen werden, erklärt werden und in die Komfortzone der Unwissenheit bei Entscheidern vorgedrungen werden. Die an ALS erkrankten Menschen haben keine Lobby.
[Moderator] In einem Blogeintrag schreiben Sie Zitat "Wir befinden uns mitten im Rückzugsgefecht und ich verabschiede mich täglich von Dingen, die ich nicht mehr kann. Es ist ein ständiger Abschied und demnächst stehen die lebenswichtigen Funktionen an: Essen, Trinken, Atmen." So. Da hab ich beim Lesen nen Kloß im Hals bekommen. Aber dann lese ich an anderer Stelle von Ihnen, Zitat "Ich arrangiere mich jeden Morgen neu mit der Lage. Es überwiegt die Freude am Leben. (.) Ich lebe gerne, bin mit mir zufrieden und verstehe das Leben jeden Tag als Geschenk - über Geschenke freut man sich." Wie kriegen Sie das hin mit dieser Zuversicht?
Ehrlich gesagt habe ich dafür kein Patentrezept. Aber die
Fakten sprechen für sich. Ich lebe und werde geliebt. Wann meine Zeit um ist,
kann niemand sagen. Bis dahin will ich ein erfülltes Leben führen, mich an den
schönen Dingen erfreuen, Ehemann und Papa sein. Das Leben dreht sich ja nicht
um mich, das wäre eine völlig egoistische Sicht, sondern wir sind eine
Gemeinschaft, und das verpflichtet. Und daher will ich nicht in Selbstmitleid
baden, sondern teilhaben und mich aktiv einbringen. Ich habe die Hoffnung,
unseren Sohn noch lange auf seinem Weg begleiten zu dürfen. Bis jetzt läuft das
ziemlich gut, wobei das Wort „Rollen“ vielleicht treffender wäre.
Das Interview war bei mir mit einigen Tränen verbunden. Es wühlt mich emotional sehr auf, die Antworten zu hören. Zum einen, weil es sehr intensiv ist, die eigenen Gedanken zu hören und sich der Tragik bewusst zu werden. Ich schaute und hörte mir quasi selbst zu, wie ich schwerbehindert und dem Ende meines Daseins sehr nahe, in meinem riesigen Rollstuhl dastehe und über das Leben, unser Leben, öffentlich sinniere. Völlig surreal, wie im Endzeitblockbuster. Unfassbar und leider kein böser Traum, sondern unser Leben. Fühle ich mich doch innerlich taufrisch und war ich vor kurzem noch in körperlich guter Verfassung. An dieser Stelle kommt mir die Idee, dass manchen gesunden Menschen ein Sprachcomputer ebenfalls hilfreich zur Selbstreflexion sein könnte. Vielleicht würde ihnen bewusst, was sie zum Besten geben, und dass manches Geplapper vielleicht besser eine Extrarunde durchs Hirn genommen hätte, bevor man es in den Äther schickt. Exkursende, zurück in meine Gefühlswelt. Zum anderen merke ich die Ohnmacht, die mich ergreift, weil mir in diesen Momenten bewusst wird, wie gerne ich lebe und wie sehr ich liebe. Und dass meinem Sohn nur die verzweifelte Hoffnung seines Papas auf einen medizinischen Durchbruch bleibt, will er seinen Papa noch länger an seiner Seite haben und in präsenter Erinnerung. Als der Sprachcomputer meine Antworten verlas, merkte ich, wie ich damit ein Erbe schaffe. Aber Hannes soll nicht nur über seinen Papa lesen und erzählt bekommen, wer ich war, sondern von eigenen Erlebnissen, Erinnerungen und Gefühlen an Papa zehren können. Er ist doch noch so jung. Wie viele Erinnerungen haben Sie an Ihre ersten drei Lebensjahre, von denen Sie heute noch zehren?!
Ich musste mich danach kurz sammeln und es folgte ein Kurzinterview, welches gefilmt wurde und noch ein Foto für die Ahnengalerie. Beim lockeren Plausch wurde die Veranstaltung ausklingen gelassen.
Die Aufregung legte sich, das Wetter wurde mistig und unsplagte ein Hüngerchen. Ein Lokal musste her. Es stellte sich die Frage, wo wirmit meinem Rollstuhl reinkommen. Auf die Idee, eine App zu bemühen, sind wirnicht gekommen und das Wetter ließ keine Zeit für Experimente. Das Auto musstenah stehen und die Herberge musste stufenfrei sein. Wie wir schnellfeststellten, kein leichtes Unterfangen. In Köln-Klettenberg wurden wir fündig.Ein beschauliches und einfaches italienisches Restaurant hatte nur eine kleineStufe. Die Kunst bestand darin, mit Schwung die Stufe zu nehmen, diedahinterliegende schmale Eingangstür mittig zu treffen und dahinter sofort zumStehen zu kommen, da dort bereits ein Tisch stand, an dem ein Pärchen dinierte.Gedankenspiele liefen ab: „Komme ich mit nassen Reifen nicht rechtzeitig zum Stehenoder eine Spastik erwischt meine Hand, dann räume ich dezent den Tisch weg und dieDame beißt nicht in ihr Bruschetta, sondern in mein rechtes Ohr. Wahrscheinlichschlägt mich ihr Heißblüter daraufhin postwendend aus meinem Sulky…. Egal, ichhab Simon dabei, er teilt notfalls das Meer.“. Da wir im strömenden Regen standenund der Padrone bereits als Einweiser aktiv geworden war, legte ich schwungvollden Hebel nach vorn und hüpfte in den Laden, als hätte ich das völlig unter Kontrolle,bremste passend und mein Kopf schlug nach vorn. Ich tat so, als wollte ich mitdieser Geste freundlich in die Runde grüßen. Was bin ich doch für ein wilderAdrenalinjunkie geworden, ein Teufelskerl.
Drinnen angekommen wurden wir herzlich empfangen, wiejedermann, Schwerbehinderung und Rollstuhl spielten keine Rolle. Man warfröhlich, zuvorkommend, behandelte mich wie jeden anderen Gast auch, und dassich mein Kölsch mit Strohhalm trinke, war selbstverständlich für das Personal undfühlte sich an, als wäre das das Normalste auf der Welt. Frei nach Goethe: „Hierbin ich Mensch, hier darf ich’s sein“. Und lecker war es auch. Danke.
Und nun nehmen die Dinge ihren Lauf. „madebyeyes“ wurdezusammen mit 27 anderen Projekten von einer Jury aus circa 1.200 Vorschlägenausgewählt und für den Grimme Online Award nominiert. Die Jury kann insgesamtbis zu acht Preise vergeben, diese müssen sich aber nicht gleichmäßig auf dieKategorien verteilen. Auch kann sie auf die Vergabe in einer Kategorieverzichten oder weniger als acht Preise vergeben. Am 19. Juni ist dieBekanntgabe der Preisträger im Rahmen einer Abendveranstaltung in Köln. Wirpacken jetzt das Tretboot und fahren los, diesmal wäre ich gerne pünktlich.