[ m a d e b y e y e s ]
Eigentlich wollte ich in den nächsten Wochen einen Artikel schreiben, der sich mit dem aktuellen Stand der Therapieansätze bei ALS beschäftigt. Das werde ich auch noch machen. Nun muss ich aber aus aktuellem Anlass diesem Artikel vorgreifen und will Ihnen einen unfassbaren Vorgang aufzeigen, ich muss.
In meinem Blog erzähle ich aus meinem Leben und über die Dinge, die mich bewegen. Daher muss ich heute zur Augensteuerung schauen und Ihnen an paar Zeilen schreiben, da ich heute sehr bewegt und enttäuscht bin. Vor drei Tagen war ich zu Gast als Nominierter für den Grimme Online Award 2019. Es war der derzeitige Höhepunkt in meinem persönlichen Bestreben, der Krankheit ALS mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Ich war der guten Hoffnung, dass das ständige Bemühen aller sich peu à peu auszahlen wird und wir positiven Einfluss nehmen werden, was sich indirekt, im besten Falle direkt, auch auf die Therapieforschung auswirken kann. Am Ende des Tages zählt das Ergebnis und wenn auch nur ein Hauch mehr Verständnis für die von ALS Betroffenen dadurch erzeugt wird, zahlt dies auf jede positive Einwicklung ein. Ich bin positiv gestimmt gewesen, wir alle haben viel beim Grimme Online Award erreicht. Soweit die Theorie.Meine gute Stimmung ist nun hinüber. Grund ist, dass mir die EMA (die Arzneimittelbhörde der Europäischen Union) gefühlt eine schallende Ohrfeige verpasst, und nicht nur mir, sondern tausenden von Menschen in der europäischen Union. Heute las ich die Information, dass mir zukünftig ein Medikament weniger zur Verfügung steht. Wer den letzten Satz zur Sicherheit zweimal gelesen hat: ja, Sie haben richtig gelesen. Nicht ein Medikament mehr, sondern tatsächlich eins WENIGER.
Nun wäre dies ja erstmal nichts Ungewöhnliches oder Tragisches, würden wir uns zum Beispiel über abschwellendes Nasenspray unterhalten. Aber es handelt sich bei dem Medikament gerade nicht um eines von vielen Medikamenten, die direkten Einfluss auf den Verlauf der Krankheit ALS haben.
Aktuell gibt es in der EU nicht fünf Medikamente, die für ALS zugelassen sind, auch nicht zehn und auch nicht 50. Die korrekte Antwort lautet: [Trommelwirbel] Es gibt genau ein einziges zugelassenes Medikament. Dieses heißt Riluzol, ist seit 1997 zugelassen und laut der damaligen Studie kann Riluzol das Überleben um drei Monate verlängern. Heute vermutet man, dass der positive Effekt etwas größer ist, aber Vermuten ist nicht Wissen. Hierzu müsste eine erneute Studie durchgeführt werden. Was man allerdings sicher weiß: es hilft. Also warum Ressourcen verschwenden für Zahlenspiele, benötigt man doch die eh viel zu knappen Ressourcen, um weitere Medikamente zu entwickeln und zu testen. Also schlagen wir ein Ei drüber, Riluzol hilft, das genügt, weiter geht’s im Kampf. Sprung auf, Marsch, Marsch, wir haben doch keine Zeit. Die meisten Patienten versterben innerhalb drei bis fünf Jahre nach der Diagnosestellung. Und die fallen dann auch nicht tot vom Trampolin, auf dem sie bis zum Schluss quietschfidel fröhlich hüpfend ihrer Vitalität frönten. Die Realität ist, dass sie innerhalb kürzester Zeit zu Pflegefällen werden, ihre gesamte Muskulatur verlieren und vollständig auf fremde Hilfe angewiesen sind, bei vollständig wachem Geist. Hinzu kommen die bürokratischen Hürden, die Grabenkämpfe mit der Krankenkasse und die außerordentlichen finanziellen Herausforderungen, um nur eine kleine Auswahl an äußerst belastenden Umständen zu nennen, die die Amyotrophe Lateralsklerose für Betroffene bereithält. Zudem finden Betroffene selten spezialisierte Ärzte, entsprechend geschulte Therapeuten oder kompetente Beratung. Warum? Kann man komplex beantworten, muss man aber nicht. Unterm Strich: die Kohle fehlt.
Die ALS zählt zu den seltenen Erkrankungen. Dabei kommt sie nicht so selten vor. Ich will Sie nicht mit Begriffen wie Prävalenz oder Mortalität und theoretischen Abhandlungen und Berechnungen erschlagen, danach steht mir nicht der Sinn. Simpel gesagt müssen alle nur schnell genug sterben, dann bleibt die Krankheit laut Definition der EU selten, denn gezählt werden nur die lebenden Erkrankten. Aber ich will mich nicht im Detail verlieren, sondern schauen was unter dem Strich rauskommt. Das Bundesministerium für Gesundheit informiert auf seinen Seiten auch über seltene Erkrankungen. Dort liest sich das, als wäre das alles prima geregelt, ergänzt um viele Konjunktive. Man schreibt über Ambulante Spezialfachärztliche Versorgung und wie in der EU doch dafür Sorge getragen wird, dass Anreize für die Erforschung, die Entwicklung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln für seltene Leiden geschaffen werden. Und über die Förderung von Arzneimittel für Seltene Erkrankungen, die lebensbedrohlich oder schwerwiegend sind und für die bisher keine oder keine zufriedenstellenden Behandlungsmöglichkeiten bestehen, oder die einen erheblichen Nutzen gegenüber bereits zur Verfügung stehenden Therapiemaßnahmen aufweisen. Meiner Ansicht nach bei der ALS ein völliger Schuss in den Ofen. Ich sehe nichts davon in meiner Wirklichkeit ankommen. Gar nichts.
Und nun kommt es noch schlimmer. Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es ein weiteres Medikament zur Behandlung der Amyotrophen Lateralsklerose namens Edaravone. Das Medikament wird als Infusion gegeben und grob gesagt zwei Wochen lang an zehn Tagen infundiert, gefolgt von zwei Wochen Pause. Danach beginnt der Zyklus von vorne. Das Medikament ist in Japan, Südkorea, den USA, Kanada und der Schweiz zugelassen. In der EU, und somit in Deutschland, nicht. Bisher war es so, dass das Medikament trotzdem verschrieben werden konnte, und auf Antrag übernahmen viele Krankenkassen die Kosten für diese Therapie. Das Medikament wurde von der Apotheke über Großhändler aus dem Ausland importiert.
Laut Studien kann das Medikament bei optimaler Wirkung, den Verlauf um 30 Prozent verlangsamen. Das ist jetzt stark vereinfacht, soll uns hier aber genügen. Fakt ist: Bei vielen Patienten wirkt es sich positiv aus. Und so auch bei mir. Ich bekomme die Infusionen nun seit über einem Jahr und sie tun mir gut. Mein Verlauf hat sich verlangsamt und ich spüre, dass meine Koordination besser ist während den Infusionswochen. Das wird auch durch das Universitätsklinikum bestätigt. Der Hersteller des Medikaments hatte einen Zulassungsantrag bei der EU gestellt. Soweit so gut. Endlich war ein weiteres Medikament verfügbar und es bestand nun die Hoffnung, dass noch weitere in naher Zukunft hinzukommen und die Kombination, der Cocktail, an Medikamenten, eine wesentliche Verlangsamung des Verlaufs bewirken könne.
Nun habe ich heute folgende Meldung gelesen:
Zulassungsantrag für Edaravone bei der EMA zurückgezogen
Das japanische Arzneimittelunternehmen Mitsubishi Tanabe Pharma Corporation (MTPC) hat den Antrag auf Zulassung des Medikamentes Edaravone (Radicava) bei der Europäischen Arzneimittelbehörde (European Medicines Agency, EMA) zurückgezogen. MTPC hatte im Juli 2018 einen entsprechenden Zulassungsantrag gestellt, um für Edaravone den Status eines zugelassenen, verordnungsfähigen und erstattungsfähigen Medikamentes zu erhalten. In Japan, Südkorea, den USA, Kanada und der Schweiz ist die beantragte Zulassung erteilt worden.
Im Gegensatz zu den genannten Ländern hat sich die Arzneimittelbehörde der Europäischen Union (EU) weitgehend ablehnend gegenüber Edaravone positioniert. Aufgrund der ablehnenden Bewertung des Medikamentes durch die EMA hat MTPC keine realistische Perspektive für eine Zulassung erkennen können und den Prozess des Zulassungsantrages nicht weitergeführt. In den öffentlich verfügbaren Dokumenten wird seitens der EMA kritisiert, dass die zu Edaravone durchgeführten Studien nicht den EMA-Leitlinien zur Zulassung neuer ALS-Medikamente entsprechen. Dabei sieht die EMA eine Wirksamkeit für neue ALS-Medikamente grundsätzlich erst dann gegeben, wenn das Medikament mindestens 12 Monate in einer Studie untersucht wurde. In diesem Zeitraum muss eine Überlegenheit des Medikamentes im Vergleich zu einer Placebo-Behandlung gezeigt werden. Weiterhin fordert die EMA einen positiven Effekt neuer Medikamente auf das Überleben von ALS-Patienten. Beide Kriterien (Studienlaufzeit und Überlebenseffekt) wurden in der japanischen Zulassungsstudie nicht erfüllt: Die Studie wurde über sechs Monate realisiert (anstelle von geforderten 12 Monaten). Eine Wirksamkeit auf das Überleben wurde nicht nachgewiesen, da eine Untersuchung der Überlebenszeit in der Studienplanung nicht vorgesehen war. In der Vergangenheit wurden überwiegend Medikamente von der EMA zugelassen, die zumindest in 1 EU-Land untersucht wurde. Die Durchführung der Edaravone-Studie in Japan (ohne Beteiligung von EU-Ländern) hatte möglicherweise einen weiteren Einfluss auf die negative Bewertung des Medikamentes durch die EMA.
(,,,)
MTPC reagiert mit der Zurückziehung des Zulassungsantrages auf die ablehnende Beurteilung durch die EMA. Sozialrechtlich entspricht die Zurücknahme des Zulassungsantrages einer Ablehnung der Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA. Damit verfügt das Medikament Edaravone keine arzneimittelrechtliche Grundlage für die Verordnung und Nutzung des Medikamentes in der ALS-Anwendung. Ärzten in Deutschland ist es daher nicht statthaft, Edaravone in der jetzigen Darreichungsform (Infusionstherapie) zu verabreichen.
(…)
Wir bedauern, dass Edarovone in Deutschland nicht mehr zur Verfügung steht. Wir bitten alle Patienten mit ALS, die derzeit eine Edaravone-Therapie durchführen, um Verständnis und eine aktive Mitwirkung, um die Therapie geordnet zu beenden und die Behandlung in der Zukunft zurückzustellen.
Stand: 22.05.19 - Quelle: https://www.als-charite.de/zulassungsantrag-fuer-edaravone-bei-der-ema-zurueckgezogen/?fbclid=IwAR1lamQeI-93doll5j7uLzR95d8cGPsVa2KheHruIovxPfoWOTHQ9GWNUeI
Unfassbar. Und jetzt komm mir keiner und behaupte, der Hersteller habe zurückgezogen, obwohl die liebe EMA den Zulassungsantrag ja noch nicht „richtig“ abgelehnt gehabt hatte. Weil Kriterien nicht erfüllt sind, steht ein wirksames Medikament nicht zur Verfügung. Der Nutzen für den Patienten interessiert nicht. Kriterium ist Kriterium. Was auch immer. Mich interessiert auch keine Argumentation und keine Rechtfertigung. Ergebnis Eurer Heldentaten ist, dass Ihr mir ein Medikament wegnehmt, meine Lebensqualität verschlechtert, unsere Hoffnungen zerschlagt und wahrscheinlich dadurch an meinem früheren Ableben mitverantwortlich seid. Es tut mir leid, Hannes, es sieht schlecht aus. Habe heute meinen undiplomatischen Tag: Sagt mal EMA, tickt Ihr noch ganz sauber? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Wer glaubt Ihr seid Ihr? Wem dient Ihr?
Ist das Europa? Das will ich nicht glauben. Hier muss Politik handeln. Und zwar umgehend. Nicht reden, debattieren und rechtfertigen, sondern handeln. Wirken. Ihrem Auftrag nachkommen. Das erwarten wir von Euch. Alles andere grenzt gefühlt an unterlassene Hilfeleistung. Durch die Beendigung der Therapie entsteht bei den betroffenen Patienten erheblicher körperlicher Schaden, der vermutlich ihre Lebenszeit verkürzt.27. Juni 2019, 16:00 Uhr – Update:
Dieser Beitrag wurde mittlerweile mehr als 32.000-mal gelesen. Das ist ganz beachtlich und zeigt, dass das Thema bewegt und auch viele Erkrankte direkt betrifft. Vielen lieben Dank fürs Teilen und für die zahlreichen Rückmeldungen.
Natürlich ist das Thema weiterhin aktuell und es gibt im Hintergrund einige Aktivitäten. Ich bleibe dran und berichte, sollte es gesicherte neue Informationen geben. Um ergebnisorientiert und effektiv agieren zu können, muss nun erst das Lagebild verdichtet und offene Fragen geklärt werden.
29. Juni 2019, 14:30 Uhr - Update:
Nun geht’s für mich erstmal mit den Infusionen weiter wie bisher. Ich bekomme die Infusionen seit ungefähr anderthalb Jahren. „Damals“ war mein Gesundheitszustand noch wesentlich besser. Wobei sich das Wort Gesundheitszustand so krank anhört. Eigentlich bin ich noch genauso krank wie vor drei Jahren, nur dass ich im Vergleich weniger Muskeln habe. Ansonsten bin ich kerngesund. Aber zurück zum Thema.
Edaravone war damals, und ist jetzt immer noch, ein in der EU nicht zugelassenes Medikament, wurde mir aber von der Uniklinik verschrieben und infundiert. Meine Krankenkasse übernimmt dankenswerterweise die Kosten. Natürlich wurde mein Antrag auf Kostenübernahme vom MDK vorher geprüft und es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung. Zudem wird alle sechs Monate ein medizinisches Kurzgutachten verlangt und dann neu über die weitere Kostenübernahme entschieden.
Ich bin allen Beteiligten sehr dankbar für die klaren Positionierungen und hoffe sehr, dass das Engagement von Ministerin Monika Bachmann und Staatssekretär Stephan Kolling dazu führt, dass sich an der grundsätzlichen Zulassungsthematik etwas ändert. Beide wollen „im Sinne der Betroffenen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und die EMA anschreiben und auf die Zulassungsthematik hinweisen“.
Hier der Link zum Artikel der Saarbrücker Zeitung zu diesem Thema:
Hier wesentliche Aussagen aus oben genanntem Artikel vom 29.06.2019:
'Das saarländische Gesundheitsministerium (…): „Trotz der fehlenden Zulassung von Edaravone durch die EMA ist das Medikament grundsätzlich verfügbar“, so das Ministerium. Das deutsche Arzneimittelgesetz erlaube den Import von Medikamenten aus Staaten, in denen es rechtmäßig in Verkehr gebracht werden dürfe, solange ein Arzt in Deutschland ein Rezept dafür ausstelle. Wenn das Medikament hierzulande nicht zugelassen sei, trage der verschreibende Arzt die Verantwortung, so das Ministerium in einer Stellungnahme gegenüber der Saarbrücker Zeitung.
Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) stellt auf Anfrage klar, dass das Medikament auch weiterhin grundsätzlich von Kassen übernommen werden kann. Die bisherige Grundlage zur Übernahme sei das „Nikolausurteil“ vom 6. Dezember 2005 gewesen, dass die Therapie mit (noch) nicht zugelassenen Medikamenten unter bestimmten Voraussetzungen erlaube. Das gelte bei Krankheiten mit voraussichtlich tödlichem Verlauf, wenn auf Basis des wissenschaftlichen Stands „Aussicht auf ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis“ vorliege, so der GKV-Spitzenverband. Die Kassen müssten künftig abwägen, ob sie die Zulassung durch außereuropäische Behörden höher gewichteten als den Rückzug des Herstellers aus dem europäischen Verfahren. „Es wird aber nach wie vor auf eine Einzelfallentscheidung der Kasse des jeweils betroffenen Patienten hinauslaufen.“'
Weiterführende Informationen zu Edaravone und dessen Wirksamkeit:
Titel: Edaravone — ein neuer Brennpunkt der Diskussion bei der ALS
https://link.springer.com/article/10.1007/s15005-017-2281-3
Kommentar von Prof. Ludolph, RKU Ulm:
„Zunächst muss festgehalten werden, dass der Effekt von Edaravone in dieser Gruppe von ALS-Patienten durchaus relevant ist. Eine Reduktion des Abfalls des ALS/FRS um ein Drittel ist ein beachtenswerter klinischer Effekt. (…)“
Titel: Charité ALS-Tag 2018 "Edaravone - was ist vom neuen ALS-Medikament zu erwarten?" von Dr. André Maier
https://www.youtube.com/watch?v=Q50ujo7thJA